Was ist Schuld?

 

Schuld beginnt im Wegsehen.

 

Niemand will sehen, was nicht in seinem Bild von der Welt hineinpasst. Er leugnet es vor sich selber. Dabei aber, in diesem Moment der Leugnung, vergessend, die Schuld wird ihn immer wieder einholen, spätestens dann, wenn die Kinder fragen: „Was hast du gewusst?“ und „Was hast Du dagegen getan?“

 

Wir fordern von unseren Eltern und Großeltern ein, sich zu ihrer Schuld zu bekennen. Dabei übersehen wir aber unsere Schuld, die wir uns in der letzten Vergangenheit aufgeladen haben.

 

Bevor wir dieses Schuldbekenntnis einfordern und dann selbstgerecht verurteilen, beginnen wir doch endlich mit unserer eigenen Schuld, leugnen sie nicht mehr, reden sie nicht schön.

 

Diese Schuld wird uns immer folgen, denn niemand kann uns im Nachhinein freisprechen. Jeder hat es gewusst, dass Kinder unliebsamer Eltern wegesperrt wurden, Jeder hat gewusst, dass im Jugendwerkhof nicht nur kriminelle Jugendliche zur Umerziehung untergebracht waren. Jeder hat gewusst, wer der Spitzel im Umfeld war und sein eigenes Verhalten darauf ausgerichtet. Jeder hat gewusst, was mit einem geschieht, der sich nicht systemkonform verhält.

 

Immer wieder wird gesagt: wir mussten ja... Wer aber ehrlich zu sich selber ist, wird sich eingestehen, niemand musste. Niemand musste wegsehen, niemand musste den Mund halten, niemand musste untätig sein.

 

Immer wieder wird gesagt: wir haben ja... nur gearbeitet, unsere Familie ernährt. Dabei aber wohlweislich weggesehen, dass der Nachbar oder der Arbeitskollege, die plötzlich nicht da waren, auch Familie hatten. Wenn sie wieder auftauchten, mieden wir deren Kontakt und hofften, sie würden uns nicht ansprechen. Es könnte ja der Eindruck entstehen, wir hätten etwas mit denen zu tun. Solidarität war nur hinter den Grenzen gefragt und anerkannt.

 

Immer wieder wird gesagt: wir dachten ja... Ja, was dachten wir? Wir dachten, alles bisher so Eingerichtete geht auf ewig so weiter. Viele wünschten sich zwar eine bessere Gesellschaft, die Wenigsten taten aber etwas dafür. Wie es denen erging, wissen wir, nicht erst seit jetzt, sondern bereits damals. Sie wurden weggesperrt, verkauft, zum Stillschweigen erpresst, vertrieben.

 

All das wusste jeder.

 

Nun kommen nach geraumer Zeit besonders ehrsame Menschen daher: die Untätigen und die Richter. Sie bauen auf die Vergesslichkeit anderer.

 

Diejenigen, die sich auf den Taten ihrer Ahnen ausruhen oder gar damit prahlen, sind blind dafür, ihre eigene Schuld zu erkennen. Sie sind aber ganz schnell dabei, anderen ihre Ahnen immer vorzuführen, ohne jemals selbst im Leben etwas Nachhaltiges geleistet zu. Wo keine Tat ist, kann eben keine Schuld entstehen.

 

Dazu gesellen sich allzu gerne die selbsternannten Richter. Sie fordern bedenkenlos eine Schuld der anderen ein, dabei aber wohlweislich übersehend, dass vom hohen Thron des historischen Rückblicks sich immer wohlfeil verurteilen lässt.

 

Diese beidem Kategorien von Menschen sind Verbündete im Pool der Scheinheiligkeit, um sich selbst vor dem Ertrinken zu retten, denn früher oder später werden sie untergehen. Sie messen ihr eigenes Nichtstun, ihre eigene Unfähigkeit zur Tat nur an der Schuld des anderen, in der Hoffnung, dass ihre eigene Schuld nicht zum Vorschein kommt.

 

Auf die Vergesslichkeit gar Dummheit anderer aufbauende Unredlichkeit lässt sich auf Dauer nicht verstecken. Redlichkeit wird sie irgendwann einholen und als das aufdecken, was es ist: eine große aus Feigheit und Untätigkeit genährte Schuld.

 

Wer mit dem Unterton des Vorwurfs ein Schuldbekenntnis einfordert, beginne bei seiner eigenen Schuld.

 

Ich habe damit bereits begonnen. Wer begleitet mich?