Kalter November

 

Längst zur Gewohnheit geworden, sieht sie jeden Früh in ihren Posteingang. Ein Absender war ihr unbekannt und daher neugierig geworden, öffnet sie den Brief.

 

Eine Frau schreibt ihr, dass sie durch das Internet auf die Adressatin  aufmerksam und nach einigem Lesen neugierig geworden wäre. Die Veröffentlichungen hätten die Frau ermutigt, der Angesprochenen die eigene Sorge und seelische Belastung mitzuteilen, sich ihr anzuvertrauen.

 

Die Frau verlor vor kurzer Zeit einen sehr nahen Menschen und hatte große Mühe, mit ihrer Trauer zu leben. Sie fühle sich ruhelos, getrieben. Eine entsprechende Therapie konnte ihr die Unruhe nicht nehmen. Sie bezeichnete sich als Gefangene, eingeengt und gefesselt durch diese Trauer.

 

Die zur Vertrauten gewordene Unbekannte, ist nach dem Lesen der sehr anrührenden Zeilen tief bewegt und ganz langsam steigen ihre eigenen Erinnerungen hoch. Erinnerungen an einen sehr kalten November.

 

Der Winter zeigte einen sehr frühen Beginn, mit Kälte und Schnee. Sie sah sich auf der Autobahn fahrend. Einige hundert Kilometer lagen vor ihr. Der Glätte und dem eingesetzten Schneetreiben trotzend, fuhr sie von der Furcht eines Zuspätkommens viel zu schnell.

 

Am Ziel angekommen, sah sie  ihren Bruder, kein Wort sagend an der Haustür und sie wusste sofort, dieses Schweigen wird sich in einigen Stunden in Trauer wandeln.

 

Einige Häuser weiter erwartete sie ihr Vater. Gezeichnet von wenigem Schlaf und einer Hilflosigkeit, die sie, die Tochter, Zeit ihres Lebens noch nie an ihrem Vater gesehen hatte.

 

Seine Frau, ihre Mutter lag im Sterben, ihre Kampfeskraft war noch nicht erschöpft, aber es war absehbar, ihre Mutter wird den Kampf verlieren.

 

Sie schickte ihren entkräfteten Vater zu Bett, einige Stunden Schlaf waren sehr vonnöten, und setzte sich an das Bett ihrer Mutter.

 

Ihre Mutter nahm sie nicht mehr wahr. Oder doch? Vielleicht spürte sie ihre Tochter, die anfing zu erzählen.

 

Sie erzählte ihrer Mutter die unzähligen und kleinen Geschichten aus der Kindheit. Sie erzählte die Nacht hindurch. Hin und wieder hatte die Tochter das Gefühl, die Mutter hörte ihr zu, wollte etwas dazu geben. Diese Augenblicke gingen sehr schnell vorbei. Waren vielleicht auch von den Wünschen der Tochter eingegeben.

 

Sie streichelte ihre Mutter, hielt ihre Hand und trocknete deren Gesicht. Sie versuchte einen kleines Stück zurückzugeben von den vielen Stunden, die ihre Mutter vor langer Zeit am Bett ihrer kleinen vom Fieber getriebenen Tochter verbrachte.

 

Am frühen Morgen rief der Vater zum Frühstück, dass sie beide schweigend einnahmen. Sie hörten seine Frau, ihre Mutter. Es war ein wunderschöner früher Wintertag mit dem ersten Schnee und strahlendem Sonnenschein.

 

Plötzlich war es still, Totenstille. Aufgeschreckt schauten sie zur Frau, zur Mutter und sahen, sie hatte ihren letzten Kampf verloren.

 

Getrieben von der Unfassbarkeit, dem Erahnen einer Endgültigkeit, regelten beide, Vater und Tochter das Notwendigste. Für Tränen war weder Zeit, noch Gelegenheit.

 

Als die Frau, die Mutter das Haus, ihr Haus für Jahrzehnte, verließ, brach es aus beiden heraus. Gemeinsam weinten sie. Die Tochter sah zum ersten Mal in ihrem Leben ihren Vater weinen.

 

Sie war ein letztes Mal die kleine Tochter und ihre Tränen flossen wie in längst vergangenen Kindertagen.

 

Den Vater trieb es aus dem Haus und er wanderte Stunden durch den Schnee. Am Ende seiner Kräfte kehrte er zurück. Die Tochter erwartete ihn mit einer warmen Suppe.

 

Diese Erinnerung, vor Jahren durchlebt, lässt sie weinen. Jetzt aber haben diese Erinnerungen ihren Schrecken, ihr Bedrückendes verloren. Die heutigen Tränen haben etwas Befreiendes.

 

Sie schreibt der Frau über ihren noch einmal durchlebten Verlust und über die  Trauer, die nie vergeht. Die Trauer verändert sich über die Jahre, bleibt jedoch für immer.