Der Weg zur Hölle

 

Vor Jahren stand sie vor einer Weggabelung und war sich nicht einig, welchen Weg sie einschlagen sollte.

 

Sie wog die Unwägbarkeiten, die Wahrscheinlichkeiten ab. Ging sie nach rechts, bliebe sie für sich unabhängig, aber mit einer kleinen Einsamkeit in der Seele.

 

Ginge sie nach links, erwartete sie vielleicht ein Glück, auf das sie zeitlebens gewartet. Sie zweifelte zwar, ob dieses Glück sie auch glücklich und zufrieden machen würde, aber alle Zweifel schlug sie nach langer Überlegung in den Wind.

 

Sie wählte den linken Weg.

 

Nachdem sie einige Zeit ein Stück auf ihren selbstgewählten Weg zurückgelegt hatte, wurde ihr gewahr, sie gab von sich immer mehr auf. Sie wurde zum Wortempfänger des Anderen.
Sie selbst fand keine eigenen Worte mehr, da ihre Worte kein Gehör fanden. Ja, sie wollte vom Anderen nicht gehört werden. Ihre Worte wurden zum Anfang endloser Monologe des
Anderen.

 

Sie gab auf. Sie wollte keinen Zwist, keinen Zank. Ohnedies war es für sie bequemer, einfacher, unkomplizierter. Der Andere gewöhnte sich an ihre Sprachlosigkeit. Hin und wieder fiel ihm zwar ihre Sprachlosigkeit auf, allzu gerne kleidete er
dies in einen Vorwurf. Aber in seiner Selbstsicherheit, gar Selbstverliebtheit, kam ihm nicht einmal der Gedanke, die Ursache für ihre Wortlosigkeit zu sein.

 

Die Zwecklosigkeit ihres Bemühens einsehend, suchte sie sich ihren Freiraum. Sie wollte nicht zeitlebens wortlos daher gehen. Sie begann, ihre Worte aufzuschreiben. Es entstanden Geschichten, die von ihr fremden Menschen gerne gelesen
wurden. Endlich fand sie Gehör.

 

Mit immer größer werdendem Missfallen bemerkte der Andere ihre Räume der Unterhaltung, der Gespräche. Sein Missfallen steigerte sich, angefeuert von vielen seiner Freunde, denen er wohldosiert seine Wahrheit darbot, in pure Streitlust und
Beschimpfungen.

 

Mitnichten zwang ihn aber diese neue Lage zum Nachdenken über sich selbst. Er, der Andere, war dermaßen über die Richtigkeit seiner Gedanken überzeugt, dass Selbstzweifel
gar keinen Raum und Platz fanden. Er sah nur noch sich selbst, mit seinen ungeprüften Gedanken; er war in seiner Welt gefangen.

 

Diese seine Welt schuf auch sie durch ihre Selbstaufgabe. Sie hatte nicht um ihre Worte gekämpft, sie ließ ihn von Beginn an gewähren.

 

Nun war sie aber an einem Punkt ihres Lebensweges angekommen, an dem sie nicht mehr mit Wahrheiten seiner Worte leben wollte. Sie erkannte von Tag zu Tag deutlicher,
wie er sich seine Wahrheiten aus Trugbildern, aus Wünschen, aus Lügen gar bastelte.

 

Diese Lügen verkündete er, nachdem er ihr aller Mittel der Selbstdarstellung raubte, ihren und seinen Freunden. Viele derer schwangen sich allzu gern zu Ratgebern auf.

 

Nein, sie fielen ihm nicht in den Arm oder riefen ihm zum Einhalt auf. Sie ließen ihn gewähren in seinem Tun. Er konnte so würgen, schlagen. So mancher auch ihrer Freunde fühlte sich gar zum Anfeuern und Beifall berufen.

 

Nun in seinem gewaltsamen Tun bestätigt, fand er keinen inneren Einhalt, keine Grenze mehr. Er hatte nur noch ein Ziel: alles, was seiner Wahrheit entgegenstand, zu vernichten.

 

Sie rief sich Hilfe, die sie auf ihren Weg zur Hölle hinwegrissen. Diese Hilfe erreichte sie gerade rechtzeitig, kurz vor dem Eingang zur Hölle.

 

Heute ist sie zur Weggabelung zurückgekehrt. Sie nahm nun den rechten Abzweig. Sie lebt in ihrer eigenen Wohnung, tauscht ihre Worte mit ihren wahren noch verbliebenen
Freunden. Sie lebt dort zwar karg, aber in Ruhe und ohne Furcht.