Angekommen

 

Sie schloss ihre Wohnungstür auf und fühlte sich, wie an den vorherigen Abenden auch, endlich zu Hause. Niemand, der sie erwartete, um Rechenschaft über ihren Tag abzuverlangen. Niemand, der sich darüber ein abwertendes Urteil nur aus seiner alleinigen Sichtweise anmaßte. Niemand, der sie bei ihren Entscheidungen und Gedanken klein machte. Niemand, der sie nach einem harten Arbeitstag in sein Zeitkorsett einpassen, gar einzwängen, wollte. Niemand, der in seiner Selbstherrlichkeit nur sich selber sah und alles andere außen vor ließ.

 

Sie fühlte sich ganz einfach wohl. Ihr neues Leben, der Anfang mit über sechzig Jahren, hatte begonnen.

 

Es fehlte ihr noch an allem. An Möbeln gab es nur eine Schlafstelle auf dem Fußboden eines Zimmers. Die Kartons, gefüllt mit ihrer Kleidung und ihren heißgeliebten Büchern, standen gestapelt im anderen Zimmer. Die Belastungen aus dem laufenden Einkommen waren derartig groß, dass zunächst kein Raum für Anschaffungen blieb.

 

Sie brühte sich, wie jeden Abend jetzt, ihren Tee und ließ den Tag Revue passieren. Nach einer Mahlzeit setzte sie sich an den Computer und schrieb. Zwischendurch waren einige Telefonate angekommen und mussten erwidert werden. Irgendwann am späten Abend begab sie sich zur Ruhe.

 

In der darauffolgenden Zeit wurden die ersten Möbel geliefert. Welch unbändige Freude bei ihr, als ihr Bett, ihre Schränke aufgebaut wurden. Sie kaufte sich benötigten Hausrat, Töpfe, Teller, Besteck, Handtücher, Bettwäsche und endlich die Teekanne, die sie schon immer besitzen wollte.

 

Aber es zogen auch Wolken der Bedrängnis auf. Ihr nun verlassener Mann konnte es nicht verwinden, allein gelassen worden zu sein. Täglich drangsalierte er sie mit seinen Anrufen, belästigte ihre Familie, ihre Freunde mit seinen Wahrheiten, die sich als Lügen darstellten. Ihr nicht wohlgesonnene Menschen nahmen dankbar und gierig seine Halbwahrheiten, seine Schmähungen, über sie auf und unterließen keine Möglichkeiten, diese in der Welt weiter zu verbreiten.

 

Anfänglich schmerzte sie dies noch. Sie versuchte sich mit ihren Mitteln zu wehren. In der Hoffnung, dass die wahren Gründe des Zerwürfnisses sich Bahn brechen würden. Aber nach einiger Zeit zog sie einen Schlussstrich. Es war ihr leid, jedem eine Antwort geben zu wollen. Wer ihr nicht glaubt, hat in ihrem Umfeld nichts zu suchen, er wird auch schwerlich von ihr zu überzeugen sein. Diese Menschen sind in deren Scheinheiligkeit, in deren Gemeinheit ihre Mühe, ihre Zeit einfach nicht wert. Sie waren eine Plage ihres Gemüts. Sie befreite sich davon.

 

Im Laufe der nachfolgenden Wochen und Monate nahm sie sich sehr viel Zeit und Muße für ihre wenig verbliebenen alten und den dazugekommenen neuen Freunden. Sie standen in einem regen, befruchtenden aber auch kritischen Gedankenaustausch.

 

Sie fühlte sich so, wie sie sich Zeit ihres Lebens immer sah, mit ihren Stärken, mit ihren Unzulänglichkeiten. Sie war endlich angekommen, bei sich.