Freundinnen

 

Sie, die Ältere,  steht vor einem runden Geburtstag, ihrem Siebzigsten. Sie erwartet viele Gäste und Glückwünsche. Darauf ist sie vorbereitet. Ihre Kinder und deren Kinder werden sicherlich die eine oder andere Überraschung vorbeibringen.

 

Ein Besucher, eine Besucherin, wird sich ebenfalls unter den Gratulanten befinden. Diese Freundin wird von ihr sehnlichst erwartet, da beide sich zwar täglich schreiben und das nun bereits seit Jahren, hin und wieder telefonieren, sich aber nur selten, ein, zwei Mal im Jahr, sehen. Die Entfernungen sind zu groß.

 

In diesen letzten ruhigen Augenblicken vor dem Jubiläumstrubel gehen ihre Gedanken zurück. Zurück in eine Zeit vor fast zehn Jahren. Sie damals gerade Sechzig, ihre Freundin Mitte Dreißig.

 

Sie war eine eifrige Schreiberin in einem Internet-Forum. Ihre jetzige Freundin ebenfalls. Oft griff sie Beiträge der heutigen Freundin auf, um ihr Paroli zu bieten. Es bereitete ihr eine Freude, manchmal eine diebische, der Anderen deren Grenzen aufzuzeigen. Diese wurde aber nicht müde, immer und immer wieder einen neuen Anlauf zu nehmen, um endlich einen Sieg im Kampf mit den Wörtern verbuchen zu können.

 

Das Geschriebene der Anderen waren wie ein plötzlicher hektischer Besuch: Tür aufreißen, einige Worte in den Raum, Tür zu. Nein, nein, nicht die Tür zuziehen, die Tür wurde zugeschlagen.

 

Sie, die Jubilarin, fühlte sich an sich selbst erinnert, als sie jung, ohne Rücksicht auf ihre Umgebung, ihre Türen zuschlug.

 

Sie wollte dieses Mädchen, sie ging davon aus, es handele sich um eine erhebliche jüngere Frau, kennenlernen und gab ihr verschiedene Zeichen, Hinweise zu einer Kontaktaufnahme. Nach mehreren vergeblichen Anläufen, verstand die Andere sie und schrieb ihr eine kurze Nachricht.

 

Es begann ein Briefwechsel. Ein sehr anstrengender  für beide Frauen. Auf der einen Seite geprägt von Verzweiflung, Missverständnissen, vielen Zweifeln und auf der anderen von Vorsicht, Zurückhaltung. Sie sah eine Katastrophe kommen. Diese Mischung der Gefühle ließ keine andere Richtung zu.

 

An diesem Tag sprudelte es bei der Jüngeren wie aus einem Vulkan. Es explodierte. Gleichzeitig war es für sie, der Jubilarin, wie eine Befreiung. Die Zeit der verzweifelten Suche nach Worten war vorbei. In klaren Worten sprach sie zu der Jüngeren, fragte sie, was sie wolle und legte ihr ihre Erwartung dar.

 

Ihr Briefwechsel stand in der Schwebe.

 

Wie von selbst, ohne jegliche Überlegung, schrieb sie der Jüngeren von einem eigenen Erlebnis vor Jahrzehnten. Wort reihte sich an Wort. Die Erinnerung kehrte zurück. Ihr fielen längst vergessene kleine Erlebnisse ein. Zum Ende gekommen, überlegte sie nicht, sondern schickte, ohne ihr Geschriebenes noch einmal zu lesen, dies der Jüngeren.

 

Die Antwort der Jüngeren ließ nicht auf sich warten. Zum ersten Mal seit Beginn ihres Briefwechselns fühlte sie sich verstanden.

 

Sie, die Jubilarin, hat aus einem tiefen nicht zu benennenden Gefühl heraus, die richtigen Worte gefunden.

 

Die Tage, Wochen danach wurden zu einem regen Gedankenaustausch. Hürden, wie die Ansprache, das erste Telefongespräch, wurden beiseite geräumt. Es kam zu einem tiefen Verstehen. Bei scheinbar großen Problemen standen sie sich gegenseitig bei.

 

Der Austausch zeigte es immer deutlicher, manchmal in schon beängstigender Form, beide, die Jüngere und die Ältere hatten ähnliche Erlebnisse, sogar Gewohnheiten. Mit dem Unterschied, die Jüngere erlebt sie jetzt, die Ältere bereits vor dreißig Jahren.

 

Sie sind Freundinnen geworden, damals vor nunmehr zehn Jahren.

 

Und nun erwartet sie, die Ältere Ihren Besuch.