Brief an Eva

 

 

Hallo Eva,

 

als ich Ihre Worte las, fiel mir eine Begebenheit auf einem Kinderspielplatz, den ich mit meiner Enkelin neulich aufsuchte, ein.

 

Meine Enkelin Minchen saß im Buddelkasten und formte zum Liedchen „Backe, backe Kuchen“ ihre Köstlichkeiten. Da geschah aber etwas sehr Wunderliches.

 

Beim Buddeln fand sie eine fest verschlossene Flasche. Mit großer Kraftanstrengung, ich höre noch heute ihr angestrengtes Stöhnen und Prusten, zog sie den Flaschenkorken. Bass erstaunt und sehr erschrocken sahen wir beide, wie aus der Flasche ein Nebel entwich, der sich umgehend zu zwei Gestalten formte.

 

Es waren ein alter Mann und eine Frau zu erkennen. Nach vielen Dehnübungen und Versuchen, sich in eine menschliche Form zu bringen, fingen sie sogleich an zu sprechen. Sie waren derart aufgeregt, fielen sich gegenseitig ins Wort, dass Minchen und ich zunächst kein Wort verstanden. Aber dann begriffen wir, diese beiden Gestalten waren wohl eine ewige Zeit in dieser Flasche von missgünstigen, ihnen nicht wohlgesonnenen Menschen eingeschlossen worden.

 

Die eine Gestalt, namens Paul, so entnahmen wir dem Durcheinandergeplapper, sprach voller Freude zu der anderen, die er Marie nannte, von der nun endlich nach ewigen Zeiten der Gefangenschaft erlangten Freiheit. Paul wurde nicht müde zu jubeln bis im barschen Ton ihm Marie Einhalt gebot. Er solle endlich sein Geschwätz beenden und zuvorderst Ausschau halten, wie die Welt sich gibt. Vielleicht sind im Laufe der Gezeiten bereits die Faschisten an die Macht gelangt und haben dies kleine Mädchen vorgeschickt, um ihnen beiden eine Falle zu stellen. Dabei verwies sie auf die Schippe in der Mädchenhand, die, nach Ansicht der Marie, ja ein Werkzeug der Faschisten sein könne.

 

Kleinlaut nahm Paul die Maßregelung entgegen und sah sich um. Was er sah, war beruhigend; es war ein Kinderspielplatz voll lustiger und eifrig spielenden Kindern. Die Eltern und Großeltern hatten es sich auf den Bänken bequem eingerichtet, tranken Kaffee, aßen Gebäck und plauderten angeregt über dies und das.

 

Von den Geistergestalten nun aufmerksam und auch neugierig geworden, näherten sich die Eltern und Großeltern den Beiden.

 

Marie, hocherfreut, nach so langer Zeit des Schweigens, endlich eine Zuhörerschaft gefunden zu haben, hub an zu reden. Voller Inbrunst und mit unzähligen Worten  ließ sie sich über die heutigen Gefahren aus. Die Machenschaften der faschistischen Politik, die Gefahren, die von denen ausginge.  Überall sah sie Mord und Totschlag, verübt von den faschistischen Horden.

 

Bald sie sah die Aufmerksamkeit der Zuhörer schwinden und flugs schob sie Paul vor („Paul, sag du auch endlich etwas. Muss ich alles alleine machen?“). Sie hob seine Verdienste, als auch sie beide noch Menschen waren, hervor, ihrer beider aufgeregtes Eintreten für die Rechte aller Menschen. Ihre Worte gipfelten in einem Aufruf, sich zu organisieren, sich zusammen zu schließen zur Vernichtung dieser Ausbeuter. Paul und vor allem sie wären bereit, diesen Kampf anzuführen.

 

Dabei übersah Marie, sie hatte keinerlei Vorstellung, wie es im Leben dieser Eltern, Großeltern und deren Zöglinge aussah. Wie denn auch, sie hatte seit Ewigkeiten ja keine Teilhabe.

 

Kopfschüttelnd wandten sich die nun gelangweilten Eltern und Großeltern ab, natürlich nicht ohne vorher ihre Zöglinge einzusammeln. Derartige grausame Märchen sind nichts für Kinderohren.

 

Marie und Paul, derart brüskiert, beschimpften die sich Entfernenden. Sie werden schon bald sehen und zu spüren bekommen, wie die faschistischen Horden sie knechten, knüppeln und letztendlich, wer sich denen nicht unterwirft,  vernichten werden.

 

Plötzlich frischte der Wind auf und eine Bö vertrieb den Nebel in Menschengestalt.

 

Ich schickte Minchen noch einmal zum Sandkasten. Sie solle die Flasche holen, es könne sich ansonsten ein Kind gefährlich verletzen. Fröhlich hüpfend entledigte sich Minchen meiner Bitte und gab mir die Flasche.

 

Die Flasche entsorgte ich  in einem Mülleimer, wo eben Nutz- und Sinnloses seinen wohl durchdachten Platz hat und von der Müllabfuhr in der  Müllverbrennung eine sinnvolle Wandlung in Wärme erfährt.

 

Eva, auf unsere Vorfahren und Nachkommen ist Verlass. Unsere Vorfahren haben uns gelehrt, wie man mit jeden Müll umgehen muss. Wir geben dies an unsere Nachkommen weiter.