Die
Vergessenen

 

(Worte an die politischen Verantwortlichen im deutschen Parlament und an jeden, der sich angesprochen fühlt)

 

Der Deutsche ist Spendenweltmeister. Er gibt gerne seinen Obolus für die Kinder und Hungersnöte in Afrika, Überschwemmungen in Asien und Europa. Die Spende ist unkompliziert und schnell zu tätigen; es genügen einige Mausklicks und innerhalb von einigen Minuten hat der Spender ein ruhiges Gewissen und kann sich als tatkräftiger Retter der übrigen Welt hinstellen.

 

Bittet man ihn aber nun, es nicht bei der monitären Spende zu belassen, sondern sich selbst, mit seiner Zeit, mit seiner Tatkraft, mit seinem Wissen, einzubringen, erntet man meistens viele Ausflüchte und
manchmal sogar ein herablassendes Mundverziehen und einen wahren Sturm der Empörung, ob der Weigerung, eine Spende zu tätigen. Es wäre doch zynisch, sich nicht dem Elend und der Not auf der Welt zu öffnen.

 

Jeden der Drückeberger, der Mundverzieher, der Empörten fordere ich deshalb auf, begleitet mich einen Tag. Geben Sie Ihren Mitarbeitern einen freien Tag, packen Sie einmal Ihre Bücher zur Seite, Ihr Theoretisieren gerade zu diesem Thema hört sich so an, als wenn der Blinde von der bunten Sommerwiese spricht. Schalten Sie Ihren PC
aus, googeln bringt da auch nichts, ziehen sich T-Shirt und Jeans an und schwingen sich auf’s Rad. Schließen Sie sich für einen Tag an. Sie werden mit mir 6 Vergessene abfahren.

 

Ach ja, Emma fällt ja weg. Bleiben demnach noch fünf.

 

Wer ist Emma und warum sie jetzt unseren Besuch nicht mehr benötigt?

 

Vor einigen Wochen starb Emma. Emma, die Sanfte, ist fast neunzig Jahre alt geworden und lebte seit über achtzig Jahren in einer diakonischen Einrichtung. Mit einer Unterbrechung in den Dreißigern. In dieser Zeit nahmen unzählige einfache Menschen Kinder wie Emma in ihren Familien auf, gaben sie als eigene aus, wohlwissend, wenn sie es nicht täten, wären diese Kinder vergast worden, der Gefahren für sich selbst und ihren Familien trotzend.

 

Emma hatte keine eigenen Kinder und freute sich jedes Mal, wenn Besuch kam, von ihren Wahlverwandten und Bekannten. Der Besucher führte sie zu ihrem großen Vergnügen aus, in die Cafeteria. Zuletzt war auch dies nicht mehr möglich. Man konnte nur noch ihre Hand halten, was sie ruhiger, zufrieden und glücklich machte.

 

Nun fragt Emma da oben jeden, der ihr begegnet: „Wer bist Du?“. Jedes Mal, wenn ich eine Blume auf ihr Grab lege.

 

Aber die übrigen fünf werden Ihnen zeigen, was ein Betreuer tagtäglich leistet.

 

Ziehen Sie doch nicht angewidert und pikiert die Augenbrauen nach oben. Ich mache es kurz. Extra für Sie.

 

Da wäre Julia. Das ist die, die immer ihre Plastikschächtelchen bei sich tragen muss. Mit der haben Sie nicht allzu viel Mühe. Es wird Sie nur, als Ungeübter und dadurch ungeduldiger, das Klappern etwas nerven. Einkaufen, ein bisschen die Wohnung richten, nach dem Rechten schauen und schon sind Sie auf dem Weg zu Angelika.

 

Ja, Angelika hält nicht viel vom Lüften, liebt eine aufgedrehte Heizung und weiß nicht mehr den Weg zum Klo. Was sie aber noch weiß, sind ihre vielen Vornamen. Wenn Sie in dem Moment kommen, wenn sie Jutta ist, nehmen Sie sich vor ihrer Eisenstange in Acht.

 

Kaum an den Gestank gewöhnt und sich vom Schrecken erholt, müssen Sie weiter zu Walter.

 

Walter liebt keine weißen sauberen Tapeten. Deshalb bemalt er sie mit seinem Kot. Sie müssten einmal seine Freude erleben, wenn er Ihnen ein neues Werk zeigen kann. Im Bad steht schon ein Eimer für Sie bereit. Sie müssen nur noch warmes Wasser reintun, dazu Reinigungsmittel und schon kann Ihre Arbeit beginnen. Und bitte, vergessen Sie danach nicht, sich zu desinfizieren.

 

Jetzt haben Sie in T-Shirt und Jeans bereits so viel Ekelhaftes gesehen und gerochen und sind von der körperlichen Anstrengung kaputt. Aber es wartet noch Bernd, der ganz pflegeleichte.

 

Dem richten Sie das Abendbrot und freuen sich auf Ihren Feierabend. Von der vielen Freundlichkeit, die Sie heute versprühten, sind Sie so etwas von fertig. Sie schlafen fast auf dem Fahrrad ein. Und morgen, übermorgen und die vielen, vielen Tage danach wiederholt sich alles.

 

Sie haben sich noch nie gefragt, was Sie diesen Betreuern zahlen. Dazu haben Sie für ehrenamtliches Engagement noch die Zuwendungen gekürzt. Sollen die doch zufrieden sein; sie haben Arbeit und wenn die Entlohnung nicht ausreicht, zahlen Sie als fürsorgliche Politiker von Staats wegen eben dazu.

 

Ich bin nicht im Pflegedienst tätig. Woher ich das alles weiß? Dreimal dürfen Sie raten.

 

Jedenfalls berichtet Ihnen dies niemand Ihrer Mitarbeiter. Es steht nicht in Ihren sauberen Büchern. Sie müssen es tun, riechen und nicht regelmäßig für den Überweisungsvorgang der Spende gerade einmal 2 Minuten aufwenden und Ihre eigens für Sie gebauten Potemkinschen Dörfer besuchen. Auf die Idee, einmal exakt nachzuschauen oder gar das Ihnen Vorgeführte zu hinterfragen, kommen Sie natürlich nicht.

 

Ihnen allen, als vielbelesene Politiker, sind die schönen deutschen Wörter Barmherzigkeit und Erbarmen bestimmt sehr geläufig.

 

Solange sich aber Ihre Barmherzigkeit und Ihr Erbarmen auf 2 Minuten reduziert, um ein gutes Gewissen zu haben, sind Sie für mich erbärmlich.

 

Mag meine Logik Ihnen verquer vorkommen. Wissen Sie, wie mich das interessiert? Und schreiben Sie sich bitte hinter Ihre Ohren, ich, die Zynische, werde auch weiterhin nie Geld spenden, keinen Cent.

 

Haben Sie es nun alle miteinander kapiert, Sie, die sich in Ihrem Wolkenkuckucksheim sehr gut, weil gut verbarrikadiert und mit selbstherrlichem Blick nach unten, eingerichtet haben?