Eine Stunde Herzensbildung

 

 

 

Sie sind alle versammelt; die mit der reinsten Herzensbildung der Nation, haben sich in einem Fernsehstudio eingefunden. Frisch den Aufregungsschweiß von der Stirn gepudert und in Erwartung des Sendebeginns.

 

Sie, der junge Philosoph, die ältere Frauenrechtlerin, der Unternehmer, die Angestellte und der Abgeordnete. Eine Stunde Zeit bleibt Ihnen, um zu später Stunde ihre Herzensbildung allen Deutschen deutlich vor Augen zu führen.

 

Die Einweisung durch den Moderator ist beendet, der Countdown läuft und die Kameras sind bereit.

 

Der Moderator ergreift das Wort und fragt nach einer kurzen Begrüßung die anwesende Runde, nach ihren persönlichen Maßstäben für ihre Herzensbildung.

 

Flugs prescht der Abgeordnete vor und redet über seinen politischen Auftrag, das Programm seiner Partei, die alleinige Vereinigung mit dem Sinn für Herzensbildung.

 

Der Moderator unterbricht diesen unerträglichen Wortschwall und fordert den Abgeordneten auf, seine ganz eigenen Maßstäbe für die Herzensbildung darzulegen.

 

Der Abgeordnete antwortete sogleich, dass dies nicht von Interesse sei. Er müsse seine persönlichen Interessen in den Hintergrund stellen. Einzig und allein zähle für ihn der Wählerauftrag.

 

Nun begab sich der Unternehmer in die Runde. Mit wiederholter Nennung seiner Firma sprach er von seinen Wohltaten für seine Angestellten. Wohlweislich dabei auslassend, gerade eine Bereich mit über 50 Angestellten ausgelagert zu haben- Dies flocht, zugegeben etwas süffisant, der Moderator ein.

 

Beleidigt zog sich der Unternehmer zurück und die Frauenrechtlerin sah ihre Stunde für gekommen.

 

Sofort zeigte sie die unerträgliche Situation der Frauen, eigentlich seit Jahrtausenden, auf. Besonders am Herzen lag ihr die sexuelle Ausbeutung der Frauen durch die Männergesellschaft am Herzen. Ein Zeichen ihrer Herzensbildung sei ihr absoluter Einsatz für die Frauenrechte.

 

Umgehend empörten sich nun die drei Männer aus der Runde und der Philosoph setzte sich durch.

 

Er begann seinen Vortrag mit einem historischen Exkurs über die Frauenrechte im Allgemeinem und endete bei deren derzeitigen Lage im Besonderen.

 

Vehement, sie konnte vor Empörung kaum an sich halten, unterbrach ihn die Frauenrechtlerin. Sie, die Männer, könnten doch wohl kaum verkennen, dass jeder sexuelle Akt einer Vergewaltigung gleich kommt. Er, der sexuelle Akt, sei Testosteron gesteuert und nur von den männlichen Instinkten. Somit auf unterstem Evolutionsniveau.

 

So ging Rede und Gegenrede hin und her. Die Sendezeit nahm Minute um Minute ab. Plötzlich und auch peinlich berührt, wurde dem Moderator gewahr, die kleine Angestellte kam bisher gar nicht zu Worte. So fragte er sie nach ihren Maßstäben für Herzensbildung.

 

Mit leiser Stimme, schüchtern, denn sie befand sich noch nie in einem derartigem Forum, begann sie über ihre Kinder, drei an Zahl, zu sprechen. Über die Schwernisse des Alltags, aber vor allem über die Freuden.

 

Die Älteste fand endlich ihre Lehrstelle, der Mittlere schrieb im letzten Diktat eine zwei und der Jüngste brachte von seinem letzten Fußballturnier einen Pokal mit nach Hause. Die Anstellung ihres Mannes hat bisher alle Wirrnisse erfolgreich überstanden und auch ihre Halbtagsarbeit scheint weiter zu gehen. Im Kirchenchor proben sie gerade für die Weihnachtsmesse, sie hätten am letzten Sonntag mit Mann und Kinder Plätzchen für das Fest gebacken.

 

Abrupt wurde sie unterbrochen. Der Moderator, nach einem Blick auf die Studiouhr, bedankte sich bei seinen Studiogästen für deren sehr interessanten Einlassungen zum Thema und schloss, aufatmend, mit unverbindlichen Worten die Sendung.

 

Die Zuschauer zu Hause, nun allein gelassen, machten sich ihre eigenen Gedanken.

 

Der Büroleiter des Abgeordneten war sehr zufrieden. Er saß mit der Stoppuhr vor dem Fernseher und konnte feststellen, dass der Abgeordnete den längsten Part an Redezeit bestritt.

 

Die Rentnerin, die schlecht einschlafen konnte, denn sie musste auch heute sehr früh raus und Zeitungen austragen. Die Rente reichte hinten und vorne nicht, um für ihre Kinder und Kindeskinder Geschenke für das Fest und deren anstehenden Geburtstage kaufen zu können. Auch so konnte sie sich ihre kleinen Freuden, ein Kaffeehausbesuch mit ihren Freundinnen gehörte dazu, erfüllen. Sie zappte durch alle Programm, ein Schlafen gehen lohnte sich jetzt nicht mehr.

 

Die Anhängerschaft der Frauenrechtlerin war teils zufrieden, teils unzufrieden.

 

Zufrieden ob der Botschaft, die ihre Sprecherin verkünden konnte. Unzufrieden, da ihr nur wenige Möglichkeiten der Verkündung eingeräumt wurden.

 

Einige Angestellte des Unternehmers, den meisten interessierte es einfach nicht, verfolgten dessen Ausführungen mit großer Bitterkeit, auch Hohn. Sie wussten nicht, welche Zukunft sie erwartete.

 

Zuschauer aus dem Bildungsbürgertum zogen etwas pikiert die Augenbrauen hoch. Nun hatte schon einer der Ihren diese Plattform, aber kaum die Möglichkeit, allumfassend auf das Thema einzugehen.

 

Die Mutter von fünf Kindern schaltete den Fernseher aus. Sie schaute noch einmal zu den Kindern und legte sich schlafen.

 

Zugegeben, sie war mehrmals während der Sendung eingenickt. Der Tag war, wie immer, sehr anstrengend und lang gewesen.

 

Sie war enttäuscht, nun nicht gesagt bekommen zu haben, was Herzensbildung ist.