Anklage in Chemnitz
Die verschwundenen Kinder und die "Reichsbürger"
Von Dietmar Seher
Die "Reichsbürger"-Szene verhilft Jugendlichen gezielt zur Flucht aus staatlicher Obhut. Davon gehen Ermittler aus. Ein 53-Jähriger muss sich jetzt vor Gericht verantworten.
Wo ist Dave? Polizei, Staatsanwälte und Jugendämter fahnden seit einem Jahr nach dem Verbleib eines damals 17-jährigen Jugendlichen. Er lebte bis zum Oktober 2018 in einer Jugendhilfeeinrichtung auf der Ostseeinsel Rügen. Dann verschwand er – bis heute spurlos.
Politisch brisant: Dave M. ist bei seiner Flucht wahrscheinlich von Personen aus dem Umfeld der "Reichsbürger"-Szene gezielt unterstützt und dann möglicherweise nach Osteuropa gebracht worden. Davon gehen Staatsanwälte in Chemnitz aus. Einer der mutmaßlichen Drahtzieher, Frank E., sitzt in Sachsen in Untersuchungshaft und wartet auf seinen Prozess.
Kampf gegen angeblichen "Kinderklau"
Sogenannte "Reichsbürger" erkennen Existenz und Autorität des deutschen Staates nicht an. Staatliches Handeln ist aus ihrer Sicht illegal und muss ignoriert oder notfalls abgewehrt werden. Verfassungsschützer beobachten die Szene und schätzen sie auf rund 19.000 Personen, knapp 1.000 von ihnen rechtsextrem. Einige sind Schusswaffen-affin. Eine Gruppe bedrohte zuletzt Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Seit einiger Zeit gehen Aktivisten der Szene gegen die Inobhutnahme von Kindern durch den Staat vor, belästigen, verleumden und bedrohen Mitarbeiter. Die Unterstützung von Flucht aus Jugendhilfeeinrichtungen könnte dabei eine neue, verschärfte Gangart bedeuten. Denn staatliche Jugendämter, die zuletzt jährlich bis zu 40.000 vernachlässigte Jugendliche aus instabilen Familien herausholten, sind aus ihrer Sicht eine "Kinderklau-Mafia".
"Wissen nicht, wo der Junge ist"
Für die "Reichsbürger"-Szene ist dieses Thema inzwischen ein zentraler Diskussionsstoff. Die angeblichen "Kindersklaven" müssten aus den "Kinderknästen" befreit werden. Auf einem Szene-Seminar in der Schweiz behauptete ein Referent laut Recherchen von Correctiv und des ZDF, deutsche Behörden nähmen Kinder in Obhut, um sie gleichgeschlechtlichen Paaren zur Pflege zu geben oder mit ihnen Rituale zu veranstalten.
Wo sich Dave derzeit aufhält, bleibt auch ein Jahr nach seinem Verschwinden völlig offen. "Wir wissen nicht, wo der Junge ist", sagte die Chemnitzer Oberstaatsanwältin Ingrid Burghart zu t-online.de. Es gebe Hinweise, er könne in Polen, in Tschechien oder auch in der Ukraine sein. Die Aktivisten begleiten ihre Aktionen mit zahlreichen Internetvideos. In einem offensichtlich inszenierten Video tritt der 17-Jährige nach seiner Flucht mit seinem leiblichen Vater auf – ein Treffen angeblich in den masurischen Wäldern.
Auch Mädchen geriet in die Fänge
Mit dem Ingenieur Frank E. sitzt seit Februar der mutmaßliche Haupttäter in U-Haft. Die Chemnitzer Ankläger werfen dem 53-Jährigen vor, verantwortlich für das Verschwinden von Dave M. zu sein – und ein entscheidender Drahtzieher in der Szene. Sie haben den Mann der zweifachen Kindesentziehung angeklagt. Der Prozess beginnt am 4. November. Über den Aufenthaltsort von Dave, den er laut Anklage über bislang unbekannte tschechische Mittelsmänner ins Ausland geschleust hat, will E. nichts wissen.
Er wird sich in diesem Prozess auch für die Entziehung eines heute 18-jährigen Mädchens aus Bocholt verantworten müssen. Das Mädchen hat nach einigen Wochen der Flucht durch Schrebergarten-Verstecke in Lübbecke und Bremen seine Mutter kontaktieren und sich aus dem Einflussbereich der Aktivisten lösen können.
Haft- und Geldstrafen bereits 2017
Für Dave ist der Kontakt mit der Szene nicht neu. Der 17-Jährige wurde schon einmal als Zwölfjähriger aus einem Heim im niedersächsischen Friedeburg "befreit". Die Täter wurden 2017 zu Haft- beziehungsweise Geldstrafen verurteilt. Beim Prozess marschierten laut einem Bericht des "Ostfriesischen Kuriers" zahlreiche Demonstranten "mit Nähe zur Szene der Reichsbürger und Verschwörungstheoretiker" auf.
Die Nähe zu den "Reichsbürgern" vermutet die Staatsanwaltschaft in Chemnitz auch beim derzeitigen Untersuchungshäftling. Hinter E., der einen nach eigenen Angaben den "Lichtblick – Verein für Soziale Verantwortung" führt, scheint eine größere Personengruppe zu stecken. Die habe E. mit Dave nach der vorgeworfenen Kindesentziehung aufgesucht. Das geht aus Internettexten seiner Freunde hervor und aus einem Video, auf dem Dave M. beteuert, er sei freiwillig mitgegangen. Er danke "den ganzen Leuten, die mir geholfen haben".