Die Debatte über Meinungsfreiheit ist ein Fake

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Von Lamya Kaddor

 

Die aktuellen Diskussionen über Meinungsfreiheit führen in die Irre. Die wahren Absichten werden von den Beteiligten kaschiert. Sinn ergeben sie nur, wenn man sie komplett auf den Kopf stellt.   

 

Bei den Diskussionen über Meinungsfreiheit in Deutschland, die das zu Ende gehende Jahr bis zur Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier geprägt haben, geht es zumeist nicht darum, ob man sich wirklich in diesem Land frei äußern kann oder nicht. Tatsächlich sind sie häufig ein Ausdruck für den Unwillen von Mitbürgerinnen und Mitbürgern, in Vielfalt leben zu wollen. Die Diskussionen erfüllen eine Stellvertreterfunktion, sind konstruiert und werden instrumentalisiert. In Wahrheit geht es um die essenzielle Frage: Wie wollen wir in Zukunft in Deutschland zusammenleben?

 

Die einen werden dabei von völkischen Gedanken geleitet: Deutschland den Deutschen. Ausländern kann freundlicherweise mehr oder weniger Gaststatus gewährt werden. Außer durch Geburt gibt es letztlich keinen Weg, Teil des Volkes zu werden.

 

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich

Die anderen stellen den Menschen unabhängig von dessen Herkunft und sonstigen äußerlichen Eigenschaften in den Vordergrund. Wer in die Grundwerte und Gesetze eines Staatswesens einwilligt, gehört dazu. In einem regulierten Umfang wird Außenstehenden gestattet, dem Gemeinwesen beizutreten.

 

Letzteres ist freiheitlich demokratisches Denken im Kern: die Grundforderung: alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Das ist auch meine Überzeugung. Da bin ich Verfassungspatriotin. Dafür trete ich ein. Denn es ist der einzig friedliche Weg in die Zukunft.

 

Die, die sich so massiv über angeblich mangelnde Meinungsfreiheit beklagen, wollen so eine Demokratie im eigentlichen Sinn nicht. Sie wollen eine Demokratie mit Vorzeichen. Eine Demokratie mit Privilegien für eine bestimmte Gruppe, die sie selbst nach Gusto definieren. Forscher sprechen heute von einer "Flucht ins Autoritäre": etwa 40 Prozent der Deutschen, so fanden sie im vergangenen Jahr heraus, haben die Bereitschaft, ein autoritäres System zu unterstützen, neigen also zu "rigiden Ideologien, die es gestatten, sich gleichzeitig einer Autorität zu unterwerfen, an ihrer Macht teilzuhaben und die Abwertung Anderer im Namen dieser Ordnung zu fordern". Diese Menschen spüren, dass sich ihre Vorstellungen von "Demokratie" nicht unter den derzeit herrschenden Bedingungen mit freier Rede, freier Presse, freien Wahlen umsetzen lassen, sondern dass es dafür radikalerer Methoden bedarf; mit genau solchen Versprechen verführen die Rechtspopulisten.   

 

Minderheiten sind Opfer des autoritären Denkens

Doch damit feuern sie Demokratinnen wie mich an, dagegen zu halten. Denn niemand will zurück ins Mittelalter (wobei Mittelalter hier als Metonymie zu verstehen ist, im Mittelalter waren die Menschen da zum Teil schon mal weiter als in der Neuzeit). Dabei sind Menschen, die einer Minderheit angehören, meist sensibler für solche Tendenzen und reagieren schneller darauf, da sie in der Regel die ersten Opfer autoritären Denkens sind.

 

Die derzeitige Ausrichtung unserer Diskussionen über Meinungsfreiheit ist jedoch nicht allein wegen ihrer Stellvertreterfunktion ein Fake. Um die Diskussionen ernst zu nehmen, müsste man sie auf den Kopf stellen. Denn offenbar wird weniger die Meinungsfreiheit derer bedroht, die sich gerade so massiv darüber beklagen, sondern derer, von denen die Bedrohung der Meinungsfreiheit angeblich ausgehen soll. Anders ausgedrückt: anscheinend sind weniger rechtskonservative Kräfte in ihrer Meinungsfreiheit bedroht, sondern mehr linke, progressive. Denn sie werden am häufigsten Ziel von Bedrohung- und Einschüchterungsversuchen. Laut Bundeskriminalamt zum Beispiel kommen die mit Abstand meisten der gezählten Hasskommentare aus dem rechtsextremen Spektrum: 77 Prozent; nur 9 Prozent der Kommentare seien linksextrem motiviert. 

 

"Sehr politische Zeiten"

Dort, wo Meinungsfreiheit bedroht ist, geht die Gefahr auch nicht von der Staatsgewalt, von Unternehmen, Politik oder Medien aus, wie es die Krakeeler suggerieren: Hauptverantwortlich für Angriffe sind der Untersuchung "Das freie Wort unter Druck" des PEN-Zentrums Deutschland und der Uni Rostock zufolge anonyme Personen im Internet, nicht identifizierte Bürgerinnen und Bürger und das Publikum. Fast 60 Prozent der Befragten sehen die künstlerische beziehungsweise schriftstellerische Freiheit durch die Sozialen Medien in Gefahr, heißt es. Solche Erfahrungen haben demnach Auswirkungen in der Art, dass Schriftstellerinnen und Journalisten in der Beurteilung von Sachverhalten vorsichtiger werden oder weniger über "sensible Themen" schreiben.

 

Eine konstitutive Debatte über Meinungsfreiheit in Deutschland hat somit keinen substanziellen Anlass und wäre allenfalls ein Thema für Staats- und Rechtswissenschaftler oder andere Fachleute. In Deutschland kann im Rahmen der Gesetze jeder sagen, was er will. Da lässt sich dem Bundespräsidenten recht geben, wenn er in seiner Weihnachtsansprache sagt: "Das sind sehr politische Zeiten, in denen wir leben – und von zu wenig Meinungsfreiheit kann in meinen Augen nicht die Rede sein. Ganz im Gegenteil: so viel Streit war lange nicht."

 

Kritik ist in Deutschland erlaubt

Das Bundesverfassungsgericht ebenso wie die unteren Instanzen haben in vielen Urteilen die Meinungsfreiheit über andere Erwägungen gestellt – jüngst in der haarsträubenden Entscheidung am Berliner Landgericht, wonach die Grünen-Politikerin Renate Künast selbst vulgärste Beleidigungen hinnehmen soll.

 

Man darf in Deutschland kritisieren und schmähen, andere verteufeln und niederbrüllen. Das muss auch in Zukunft straffrei bleiben. Jeder hat das grundsätzliche Recht, sich frei und überall äußern. Nur kann es dabei keinen Anspruch darauf geben, widerspruchslos zu bleiben, und niemand darf erzwingen, dass die eigene Meinung Mainstream wird. Gleichsam fallen Morddrohung, Beleidigungen, Volksverhetzungen im Netz nicht unter Meinungsfreiheit, sondern sind und müssen ein Fall für die Justiz bleiben - je häufiger sie auftreten, desto mehr.

 

Ich muss mir seit Jahren Widerspruch gefallen lassen  – von fundamentalistischen Muslimen, Deutschnationalen und sonstigen. Das ist nicht ungewöhnlich. Das ist nicht schlecht. Das ist nicht verkehrt. Gemeinsame Positionen findet man nur im Ringen um Argumente miteinander. Vermeintliche "Kritik" in Form von Hass und Hetze gegen Personen gehören jedoch nicht dazu.

 

Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen.