80. JAHRESTAG DES HITLER-STALIN-PAKT
(Un-)heimliche Sympathie für den Pakt der Verbrecher
Von Boris Reitschuster
1939 vereinbarten Berliner Nationalsozialisten und Moskauer Sozialisten einen der größten Raubzüge der Geschichte: In einem Nichtangriffspakt teilten sie Osteuropa auf und stellten gemeinsam die Weichen für den Zweiten Weltkrieg. In Russland ist das bis heute ein Tabuthema – und auch in Deutschland mangelt es an Aufarbeitung.
n manchen Köpfen scheint er bis heute erschreckend lebendig: In der Nacht von heute auf morgen vor 80 Jahren unterzeichneten Hitlers Außenminister Joachim von Ribbentrop und sein sowjetischer Widerpart Wjatscheslaw Molotow in Anwesenheit Stalins in Moskau den Nichtangriffsvertrag, der als Molotow-Ribbentrop-Pakt in die Geschichte einging. In einem geheimen und jahrzehntelang energisch abgestrittenen Zusatzprotokoll vereinbarten die beiden Diktatoren die Aufteilung Osteuropas: eine der größten und folgenschwersten kriminellen Absprachen der Menschheitsgeschichte.
Bemerkenswert – und weitgehend verdrängt – ist, dass Stalin damit zu Beginn des Zweiten Weltkriegs de facto auf der Seite Hitlers kämpfte. In der russischen Geschichtsschreibung wird das komplett ausgeklammert, statt vom Zweiten Weltkrieg von 1939 bis 1945 ist dort fast ausschließlich vom „Großen Vaterländischen Krieg“ von 1941 bis 1945 die Rede. Interessant auch, dass die sowjetische Propaganda nach dem Pakt zwar weiter strikt den Faschismus anprangerte – aber Hitler davon ausnahm. Er war plötzlich kein richtiger „Faschist“ mehr für Moskau, und als „National-Sozialist“ quasi sozialismuskompatibel.
Nach dem Hitler-Stalin-Pakt, wie der Vertrag auch genannt wird, habe Stalin gejubelt, dass er Hitler über den Tisch gezogen habe, sagt der frühere Litauische Staatschef Vytautas Landsbergis im Interview mit Tichys Einblick (lesen Sie das gesamte Interview ab September in der neuen Printausgabe): „Sie waren Brüder im Geiste. Nur war Stalin schlauer. Er hat Polen nicht am selben Tag angegriffen wie Hitler, wie er das mit ihm vereinbart hatte – sondern gewartet, damit Hitler allein schlecht da steht.“
Selbst solche historischen Wahrheiten wolle man heute nicht wahrhaben, beklagte der litauische Unabhängigkeitsheld und stramme Antikommunist: „Dass zwei Massenmörder gemeinsam den Zweiten Weltkrieg begonnen haben. Man lügt sich das zurecht, tut so, als sei es nur einer gewesen. Und für den anderen errichtet man wieder Denkmäler. Ribbentrop wurde gehängt, Molotow durfte niemand auch nur eine kritische Frage stellen.“
Jahrzehntelang bestritt die Sowjetunion die Existenz des geheimen Zusatzprotokolls. Berichte darüber bezeichnete Moskau als „antisowjetische Verleumdung“. Selbst Michail Gorbatschow hielt das brisante Dokument bis zu seinem unfreiwilligen Abschied von der Macht im Dezember 1991 noch geheim: Es befand sich in einem Panzerschrank im Kreml, den nur die Generalsekretäre öffnen durften. Es blieb Gorbatschows Nachfolger Boris Jelzin überlassen, das Dokument frei zu geben. 1992 wurde es erstmals in Russland veröffentlicht.
Brisanz hat die verbrecherische Absprache bis heute. Ausgerechnet im Beisein von Angela Merkel hatte Wladimir Putin bei deren Besuch zum 70. Jahrestag des Kriegsendes am 10. Mai 2015 den Pakt noch einmal verteidigt – und de facto den Polen vorgeworfen, an ihrer Besetzung mit schuld zu sein. Zudem forderte der russische Staatschef, unter dem Stalin wieder zu neuen Ehren kommt, mit Blick auf die Opfer des Paktes zwischen Hitler und Stalin, man dürfe „nicht in den Phobien der Vergangenheit“ leben. Konkret wurde der russische Präsident auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Merkel die Frage gestellt, ob er einverstanden sei mit der Meinung seines Kulturministers Wladimir Medinski zum Molotow-Ribbentrop-Pakt. Der sieht in dem Bündnis einen kolossalen Erfolg von Stalins Diplomatie und behauptet, sein Sinn bestand darin, die Sicherheit der Sowjetunion zu gewährleisten. Putin antwortete, er stimme Medinski dahingehend zu, dass Stalin Schritte unternommen habe, um eine direkte Konfrontation mit Hitler zu vermeiden. Zudem habe Polen selbst versucht, Teile Tschechiens zu annektieren. Polen sei Opfer der Politik geworden, die es selbst durchführen wollte. Die UdSSR habe eine „Masse Anstrengungen“ unternommen, um eine antifaschistische Front in Europa aufzubauen.
In den via Internet zugänglichen deutschen Medien war über diese Aussage Putins in Gegenwart der Kanzlerin bis auf die Frankfurter Allgemeine damals kaum etwas zu finden – dabei hätte die Sympathie des russischen Präsidenten für den Hitler-Stalin-Pakt sicher deutlichen Einfluss auf das Putin-Bild vieler Deutscher, die das Geschehen in Russland und der Ukraine unvoreingenommen verfolgen. Dass solche wichtigen Aspekte verschwiegen werden, ist ein Anzeichen dafür, dass manches im Argen liegt in unserer Medienlandschaft, heiße Eisen zuweilen lieber nicht angepackt und stattdessen verschwiegen werden – ob das nun Migration betrifft, Kriminalität oder Putin. Manch einer gerade auch in der Medienlandschaft scheint sich auch immer noch schwer damit zu tun, Stalin als Massenmörder und einen der größten Verbrecher der Menschheitsgeschichte einzustufen. Als würde diese Feststellung irgend etwas an der Rolle Hitlers relativieren oder gar beschönigen.
Bei vielen Putin-Verteidigern insbesondere auf der linken Seite des politischen Spektrums scheint ihr Verständnis für den Kreml-Chef auf einen allzu unkritischen Blick auf den Sozialismus zu gründen – weswegen auch darüber hinweg gesehen wird, dass Putin, dessen Opa Koch bei Stalin war, in vielem auf die Methoden von damals setzt, wenn auch strikt modernisiert, mit Samthandschuhen. Putin müsse nur mit dem Zaunpfahl des GULAGs winken und brauche gar keine neuen mehr zu bauen, sagt etwa der frühere Dissident Sergej Kowaljow: Die alte Angst sitze immer noch tief in den Menschen, und Putin spiele virtuos mit ihr. Kleine Stiche statt großer Repressionen.
Von letzteren weiß ein großer Teil der jungen Russen gar nichts mehr, weil sie im Geschichtsunterricht, wenn überhaupt, eher beiläufig erwähnt werden. Stalins Rolle wird wieder positiv gezeichnet – auf Anweisung von ganz oben. Die Geschichts-Revidierung hat ein Maß angenommen, dass es unanständig ist, wenn man sich davon nicht distanziert. Putins deutsches Sprachrohr „sputnik.de“ verbreitet etwa die Ansicht von Oleg Nasarow, Mitglied des Sinowjew-Clubs, wonach die Polen Mithelfer Hitlers waren. Er empörte sich, dass in Warschau „die Befreiungsoperation der Roten Armee im Jahr 1939 als Aggression gegen Polen bezeichnet wurde“. Nur wenige Zeilen weiter in demselben Artikel ergänzte Nasarow dann, dass die Sowjetunion „lediglich Territorien zurückeroberte, die ihr bis zum Ersten Weltkrieg gehört hatten.“ Also Befreiung und Rückeroberung zugleich? Solche Fragen sind nicht gestattet, Kritik an Stalins Aktionen sei „antisowjetische bzw. antirussische Hysterie“, so Nasarow.
Dieses Schema – dass man das Opfer eines eigenen Angriffs zum Täter macht – ist bis heute in den Köpfen der Moskauer Führung verankert und wurde später auch im Ukraine-Krieg wiederholt. Auch hier schob man den Ukrainern die Schuld dafür zu, dass Russland sie überfallen – in russischer Sprechweise „befreien“ – musste – weil sie sich der EU und auch der NATO zugewandt hatten. Als ob dies nicht ihr gutes Recht wäre als souveräner Staat – umso mehr aufgrund der sehr aggressiven russischen Politik, die sie regelrecht nach Westen trieb.
Dass in Deutschland so viele Stimmen zu hören sind, die Moskau ein Mitspracherecht über die Entscheidungen der Ukraine zugestehen – als sei sie minderjährig -, ist einer der Momente, die in Kiew und in den anderen Ländern zwischen Russland und Deutschland den Hitler-Stalin-Pakt in den Köpfen der Leute wieder sehr lebendig macht. Vor allem aufgrund der Erfahrungen von 1939 löst es dort Besorgnis aus, wenn Moskau und Berlin erneut glauben, sie könnten über die Köpfe der anderen Osteuropäer hinweg über diese entscheiden.
Dies ist aus deren Sicht etwa bei der Ostseepipeline der Fall. Den zweiten Strang dieses Lieblingsprojekts Putins zieht der Kreml gerade mit massiver Unterstützung Angela Merkels durch. Polen, Balten, Ukraine und andere Osteuropäer sehen darin einen Schlag in ihren Rücken. Kaum war das Projekt dieses Frühjahr in trockenen Tüchern, schon erklärte eine von Putins Chefpropagandistinnen im Staatsfernsehen, wenn die Pipeline stehe, würde Russland „die Ukraine bumsen“. Dies war ein Scherz, sagte sie später – auch wenn das stimmen mag, tröstet das die Ukrainer kaum. Moskau kündigte zeitgleich an, von der Ukraine künftig höhere Gaspreise zu verlangen – was dort den Eindruck einer deutsch-russischen Komplizenschaft noch erhöht. Kreml-Kritiker wie Jewgenia Tschirikowa sagen, Deutschland finanziere mit seiner Gas-Zeche Putins Krieg in der Ukraine. Zudem mache die neue Pipeline die Ukraine von Moskau erpressbar und nehme ihre eine ihrer wichtigsten Existenzgrundlagen – die Transitgebühren.
Der Hitler-Stalin-Pakt sollte den Deutschen 80 Jahre nach seiner Unterzeichnung mehr denn je eine Mahnung sein:
Dass sie den verbrecherischen Charakter des Stalin-Regimes nicht mehr weiter durch Hitlers Verbrechen relativieren.
Und dass jeder Versuch Deutschlands, gemeinsam mit Russland über die Köpfe der osteuropäischen Nachbarn hinweg oder gar gegen diese Politik zu betreiben, ein fataler Irrweg ist – ja sogar eine Verhöhnung der Opfer von einst. Umso mehr, als wir es bei Putin mit einem diktatorischen Regiment zu tun haben, das Stalin wieder hohe Ehren erweist und in dem ganz offen von einer Rückeroberung alter Gebiete (nicht nur) geträumt wird.
Das EU-Parlament hat den 23. August zum Tag des Andenkens an die Opfer der totalitären Regime erklärt. In Deutschland wird er nicht offiziell begangen. An „größeren“ Veranstaltungen ist im Internet nur eine Podiumsdiskussion der Bundeszentrale für Politische Bildung in Berlin am Vorabend zu finden. Das Grußwort dort sollte – welch Treppenwitz der Geschichte – ausgerechnet Klaus Lederer sprechen – Berliner Kultursenator und Mitglied einer Partei, die rechtsidentisch ist mit der, die unter der Ägide von einem der Pakt-Initiatoren von damals gegründet wurde: Der „Linken“, früher SED.
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Lesen Sie auch Reitschusters Kolumne «Berlin extrem – Frontberichte aus Charlottengrad»: Darin lüftet der Autor ironisch den Blick hinter die Kulissen der russisch-ukrainisch-jüdischen Diaspora an der Spree, deren Außeneinsichten oft ungewöhnliche Perspektiven eröffnen. Darüber hinaus spießt der Autor den Alltags-Wahnsinn in der Hauptstadt auf – ebenso wie die Absurditäten in der Parallelwelt des Berliner Politikbetriebs und deren Auswirkungen auf den bodenhaftenden Rest der Republik.