Ende der Sowjetunion

 

Das sowjetische Erbe

 

Ein Gastbeitrag von Gwendolyn Sasse

https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-12/sowjetunion-ende-zerfall-30-jahre

 

 

Seit 30 Jahren ist die Sowjetunion Geschichte. Doch Denkmuster und politische Ansprüche sind geblieben – der Russland-Ukraine-Konflikt zeigt das auf eklatanteste Weise.

 

Vor genau 30 Jahren zerfiel die Sowjetunion. Die Auflösung der UdSSR wurde in den letzten Dezembertagen 1991 fast geräuschlos abgewickelt. Nachdem die Präsidenten Russlands und der Ukraine, Boris Jelzin und Leonid Krawtschuk, und der belarussische Parlamentsvorsitzende Stanislaw Schuschkewitsch am 8. Dezember per Abkommen das Ende der UdSSR beschlossen hatten, trat Michail Gorbatschow am 25. Dezember 1991 als Präsident der Sowjetunion zurück. Kurz darauf wurde die sowjetische Flagge über dem Kreml eingeholt und durch die der Russländischen Föderation ersetzt. Damit trat Russland die internationale Rechtsnachfolge der Sowjetunion an und die Sowjetunion war offiziell Geschichte.

 

Es ist weniger dieser historische Moment Ende 1991 an sich als seine dramatische Vorgeschichte, die die Erinnerung an diese Zeit bestimmt: Der von Michail Gorbatschow angestoßene Reformprozess der Perestroika und Glasnost entwickelte eine Eigendynamik, von der der Reformer letztendlich selbst überrollt wurde. Vom Standpunkt der Gegenwart betrachtet hat auch die Folgezeit deutlichere Konturen als der Moment des Zerfalls. Das imperiale Erbe der Sowjetzeit wirkt bis heute nach – in wirtschaftlichen und infrastrukturellen Verflechtungen, aber auch in Mentalitäten und politischen Ansprüchen.

 

 

Das Ende der Sowjetunion erscheint im Rückblick zunehmend wie eine historische Notwendigkeit. Doch diese Lesart verkürzt die Sowjetunion auf ein zum Scheitern verurteiltes Experiment und verkennt ihre Langlebigkeit und die zeitgenössische Wahrnehmung einer ernst zu nehmenden Systemkonkurrenz im Kalten Krieg. Über die letzten 30 Jahre ist allmählich in Vergessenheit geraten, wie überraschend der Zerfall der Sowjetunion für Zeitzeugen in der Sowjetunion und im Westen war. Innerhalb eines kurzen Zeitfensters wurde das lange Zeit Unvorstellbare Realität.

 

Kriege mit Zehntausenden Opfern und Hunderttausenden Vertriebenen

Erklärungsversuche haben strukturelle, internationale und personen- und zeitgebundene Faktoren unterschiedlich gewichtet. Mittel- und langfristige strukturelle Faktoren wie die stagnierende ressourcenintensive Planwirtschaft, die zunehmend im Widerspruch zu Modernisierungsprozessen und gesellschaftlichen Erwartungen stand, schufen die Bedingungen für den Zusammenbruch des Systems, während ein Akteur wie Gorbatschow und ein Ereignis wie die Tschernobyl-Reaktorkatastrophe die Dynamik und den Zeitpunkt des Zerfalls bestimmten.

 

Die Auflösung der Sowjetunion bedeutete das Ende des sowjetisch geprägten sozialistischen Systems und des sowjetischen Föderalismus, der im Kern eine imperiale Ordnung war. Schon vor dem offiziellen Ende der Sowjetunion gewannen die baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit zurück; die Ukraine hatte ihre Unabhängigkeit bereits erklärt und durch ein Referendum legitimiert und die zentralasiatischen Sowjetrepubliken erhielten ihre staatliche Unabhängigkeit, ohne diese aktiv eingefordert zu haben. Die unterschiedlich gelagerten Staats- und Nationsbildungsprozesse wurden zu einem zentralen Element der Transformationsprozesse über 1991 hinaus und dauern bis heute an.

 

Das Ende der Sowjetunion wird im Vergleich mit dem Zerfall Jugoslawiens oft als erstaunlich friedlich bezeichnet. Die Territorialkonflikte, die den Desintegrationsprozess der Sowjetunion begleiteten, diesen überdauerten beziehungsweise neu entfacht wurden oder erst Jahrzehnte später ausbrachen, korrigieren dieses Bild. Die ersten Konflikte waren unmittelbar mit der Auflösung der Sowjetunion und der nationalen Politik der Nachfolgestaaten verknüpft (Nagorny-Karabach, Transnistrien, Abchasien und Südossetien), manche von ihnen durchlebten einen zweiten Konfliktzyklus (Abchasien und Südossetien 2008 und Nagorny-Karabach 2020). Diese Kriege haben insgesamt Zehntausende von Opfern gefordert und Hunderttausende aus ihrer Heimat vertrieben. Der im öffentlichen Diskurs weitverbreitete Begriff der "eingefrorenen Konflikte" vermag die Dynamik dieser ungelösten Konflikte nicht abzubilden.

 

Auch die Krim-Annexion durch Russland 2014, der Krieg in der Ostukraine seit 2014 und der wiederholte russische Truppenaufmarsch nahe der ukrainischen Grenze sind eng mit den Hinterlassenschaften der Sowjetunion verknüpft. In Russland stieg nach der Krim-Annexion die Popularität von Präsident Wladimir Putin auf über 80 Prozent. Der Krieg im Donbass kostete bisher etwa 14.000 Menschen das Leben; mindestens 1,5 Millionen Menschen aus dem Donbass sind zu Binnenflüchtlingen geworden und etwa eine weitere Million ist nach Russland geflohen.

 

Der Russland-Ukraine-Konflikt ist das eklatanteste Beispiel dafür, wie sich neben wirtschaftlichen und infrastrukturellen Verflechtungen in der Form von Gas- und Ölpipelines vor allem Denkmuster und politische Ansprüche des ehemaligen imperialen Zentrums erhalten haben. Die Nichtanerkennung der ukrainischen staatlichen Unabhängigkeit, die in der Rhetorik vom "slawischen Brudervolk" zum Ausdruck kommt, zieht sich seit Langem durch die Politik des russischen Staatspräsidenten Putin. 2021 hat er dieses Thema mit historischen Essays, Militärmanövern und der Forderung nach einem expliziten Stopp der Nato-Osterweiterung zur Chefsache erklärt. Mit der Unabhängigkeit der Ukraine war die Sowjetunion nicht zu halten; und auch Putin hat die Nähe der Ukraine zu Russland zum entscheidenden Maßstab für Russlands Größe und seine Präsidentschaft stilisiert.

 

Auch wenn Putin den Zerfall der Sowjetunion als "geopolitische Katastrophe" bezeichnet und die russische Bevölkerung laut Umfragen in Stalin wieder die wichtigste historische Figur sieht, der Respekt gebührt, so ist diese Erinnerung an die Sowjetunion bewusst selektiv. Es geht weniger um das konkrete Ziel, die Sowjetunion wieder aufleben zu lassen – dafür sind auch die Erinnerungen an Mangelwirtschaft und die Opfer des Systems noch zu präsent –, als um ein diffuses Gefühl von Gemeinschaft und internationaler Größe. Die Krim-Annexion blieb kein Projekt der politischen Elite in Russland, ein breiter gesellschaftlicher Krim-Konsens (Krim nasch – Die Krim gehört uns) verknüpfte sich mit einer Reihe von positiven Emotionen, die zumindest zeitweilig das seit 1991 bestehende Identitätsvakuum im Zentrum des früheren Imperiums zu füllen vermochten.

 

Die Wahrnehmung des "Ostens" bleibt undifferenziert

Die mentalen Hinterlassenschaften der Sowjetunion reichen über den "postsowjetischen" Raum hinaus – auch dieses Adjektiv verallgemeinert und verklärt mehr, als dass es erhellt. 30 Jahre nach Ende der Sowjetunion bleibt die Gleichsetzung der Sowjetunion sowohl mit dem sowjetischen als auch dem gegenwärtigen Russland weitverbreitet. Mitunter schleichen sich Versprecher dieser Art in die Berichterstattung oder sogar in die politische Rhetorik ein. So verwechselte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin Anfang Dezember Russland mit der Sowjetunion, als er vor einem Angriff auf die Ukraine warnte. Auch bei der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg bleibt es eine Anstrengung, die Gleichsetzung von Russland und Sowjetunion zu hinterfragen und etwa die Ukraine oder Belarus in den Blick zu nehmen.

 

Zu den wirkmächtigen Hinterlassenschaften der Sowjetunion gehört eine pauschalisierende Perspektive auf den ehemaligen Ostblock. Obwohl die ostmitteleuropäischen Länder längst ein fester Bestandteil von EU und Nato geworden sind, ist die gefühlte Distanz von Berlin nach Warschau noch immer viel größer als die von Warschau nach Berlin. Und Kiew oder Minsk erscheinen erst auf der europäischen Landkarte, wenn es zu Massenmobilisierungen für Demokratie kommt. Mitunter vermag auch der Status eines Gastlandes auf einer Buchmesse den Horizont punktuell erweitern.

Insgesamt bleibt der Blick gen "Osten" jedoch nicht nur undifferenziert, er ist auch überwiegend negativ konnotiert: Konflikte und Korruption bestimmen einen Großteil der Berichterstattung und der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Diese Themen verdienen Aufmerksamkeit, aber sie erfassen nur einen Ausschnitt des Lebens in einer äußerst vielfältigen Region, die drei Jahrzehnte nach dem Ende der Sowjetunion mehr Interesse und Neugierde verdient. Nur so können wir uns selbst von unseren mentalen sowjetischen Hinterlassenschaften lösen und zugleich den Blick auf Russlands postimperiale Ansprüche schärfen.