"Die Deutschen ahnen nicht, wie gefährlich Putin ist"

Von Sven Böll und Marc von Lüpke


 

https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland-russland-nawalny-100.html


 

Die Demokratie ist auf dem Rückzug, immer mehr Staaten werden autokratisch regiert. Warum das so ist, erklärt die Historikerin Anne Applebaum. Sie warnt: Deutschland sollte sich vor Russland hüten.


 

t-online: Frau Applebaum, wer sind derzeit für Sie die gefährlichsten Politiker auf der Welt?


 

Anne Applebaum: Da fallen mir einige ein.


 

Wir haben Zeit.


 

Die Liste reicht von Nordkoreas Diktator Kim Jong Un über den chinesischen Staatschef Xi Jinping bis hin zum russischen Präsidenten Wladimir Putin. Ich zähle aber keinen Politiker aus dem Westen dazu. Denn selbst die schlimmsten unter ihnen gehören nicht zu den gefährlichsten der Welt.


 

An wen denken Sie?


 

Vor allem an ehemalige Demokratien wie die Türkei oder Ungarn – Politiker wie Recep Tayyip Erdoğan oder Viktor Orbán, die in ihren Ländern das demokratische System zerstört haben, verfügen über eine gefährliche Mischung aus Gier, Korruptheit und Machthunger.


 

Bei diesen Stichwörtern fällt uns auch Donald Trump ein. Ist es zumindest ein gutes Zeichen für die Demokratie weltweit, dass er abgewählt wurde?


 

Auf jeden Fall! Ich will die Bedeutung der USA nicht überhöhen. Aber sie sind weltweit das Symbol für die Demokratie schlechthin – selbst für jene Menschen, die den Vereinigten Staaten skeptisch gegenüberstehen. Deshalb war es extrem schädlich, dass der Präsident der wichtigsten Demokratie auf diesem Planeten ein autokratischer Populist war.


 

Trump ist nicht mehr Herr im Weißen Haus, viele Probleme aber bleiben. Vor allem sagen sich die Republikaner nicht vom 45. Präsidenten los.


 

Das ist leider wahr. Ich fürchte, dass die Partei, die sich gern Grand Old Party nennt, zunehmend merkt, dass es leichter ist, den neuen US-Präsidenten Joe Biden als Marxisten zu verteufeln, gegen das Wahlsystem zu wettern und die Weißen gegen die anderen ethnischen Gruppen aufzuhetzen, als eigene politische Konzepte für ein bunteres Amerika zu entwickeln. Das hat dramatische Folgen: Denn dann geht es in der Politik künftig nicht mehr darum, Probleme zu lösen, sondern darum, durch Abgrenzung und Attacken neue Probleme zu schaffen.


 

Wie gelang es Trump als politischem Außenseiter überhaupt, ins Weiße Haus zu gelangen?


 

Trump hat die Wahl 2016 durch einen Angriff auf das Wesen der Demokratie gewonnen. Immer wieder behauptete er, dass die amerikanische Demokratie zu seinem Nachteil ausgehebelt worden sei. Und dass er es trotzdem ins Weiße Haus geschafft habe. Als Trump dann Präsident war, hat er eine Kommission eingesetzt, die den angeblichen Wahlbetrug untersuchen sollte. Sie konnte aber keinen feststellen.


 

Damals gab es keinen Wahlbetrug, auch 2020 nicht, als Joe Biden gewann. Hat Sie der von Trump angestachelte sogenannte Sturm aufs US-Kapitol im Januar überrascht?


 

Ich war nicht einmal geschockt. Mir war klar, dass Trump niemals zugeben wird, verloren zu haben. Deshalb war es ihm absolut zuzutrauen, die Leute zum Sturm aufs Kapitol anzustacheln.


 

Von Trump abgesehen: Ihr neues Buch beschäftigt sich mit der Attraktivität des Autoritären. Populismus und Nationalismus werden ja nicht nur in den USA und Osteuropa stärker. Woran liegt das?


 

Manche Leute wollen es gerne "einfach" haben. Debattieren und Streiten entfällt in einer Autokratie. Aus diesem Grund halten Anhänger diese Art des politischen Systems für effizienter als eine Demokratie. Viele Menschen haben das Vertrauen in demokratische Systeme auch verloren, weil es Enttäuschungen und Verlustgefühle gibt.


 

Inwiefern?


 

Zwei Beispiele: Das Polen des Jahres 2021 ist nicht das, was sich viele Polen nach dem Ende des Kalten Krieges erträumt haben. Und Großbritannien ist eben kein weltweites Empire mehr, sondern nur noch eines von vielen mittelgroßen europäischen Ländern. Die Folge davon ist der verbreitete Eindruck, dass früher vieles besser gewesen sei. Wenn dann noch der Glaube dazukommt, die politische Führung habe das verspielt, was das eigene Land ausgemacht habe, radikalisieren sich einige. Und manch einer wählt dann einen Lautsprecher, der verspricht, die angeblich gute alte Zeit zurückzuholen.


 

Viele Experten sehen auch in einer zunehmenden ökonomischen Spaltung einen Grund für die Attraktivität des Populismus. Welche Rolle spielt die Wirtschafts- und Finanzkrise vor rund zehn Jahren?


 

Eine große Rolle. Damals mussten wir mit ansehen, wie Politiker und Banker, die uns lange erzählt hatten, dass sie die komplexe internationale Wirtschaft im Griff hätten, nicht mehr weiterwussten. Dann wurde im Laufe der Zeit auch noch klar, dass sie für den ganzen Schlamassel mit verantwortlich waren. Das hat sehr viel Vertrauen gekostet. Dass sich die Globalisierung parallel dazu weiter beschleunigte, hat den Glauben an den Staat zusätzlich unterminiert.


 

Weil einzelne Staaten einen kleineren Handlungsspielraum besitzen?


 

Viele Menschen empfinden angesichts der Globalisierung ein Gefühl der Ohnmacht. Wenn etwa in Großbritannien eine Firma geschlossen wird, die einem chinesischen Konzern gehört, entsteht schnell der Eindruck, dass das eigene Land nicht mehr unter der Kontrolle seiner Bürger ist. Und Mächte über uns bestimmen, auf die wir keinen Einfluss haben.


 

Die demografische Entwicklung und die Folgen von Wirtschaftskrisen und der Globalisierung betreffen viele Länder – unabhängig von ihrem politischen System. Welche Entwicklung ist denn gerade für Demokratien bedeutend?


 

Die vielleicht wichtigste und wahrscheinlich am meisten unterschätzte Veränderung ist die Revolution der Kommunikation. Was wir wie über Politik mitbekommen, hat sich in den vergangenen zehn Jahren fundamental verändert. Für den demokratischen Diskurs ist das alles andere als förderlich.


 

Sie spielen auf die sozialen Medien an?


 

Eher die Welt der Algorithmen insgesamt. Die Realität, die Sie bei Facebook, Twitter oder auch Google wahrnehmen, ist eine andere als die, die ich dort präsentiert bekomme. Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass wir online immer mehr von dem sehen, was wir mögen. Das alles führt dazu, dass wir zunehmend in unseren persönlichen Echokammern verharren und Mauern zu Menschen mit anderen Meinungen entstehen. Es verändert, wie wir Politik wahrnehmen und über Inhalte diskutieren. Und es besteht das Problem, dass wir immer weniger zwischen "wichtig" und "unwichtig" unterscheiden können.


 

Was meinen Sie genau?


 

Für einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung ist das Smartphone wohl der wichtigste Gegenstand. Auf unseren kleinen Telefonen gibt es aber keine Hierarchien mehr: Wir bekommen eine Nachricht von einer Freundin, die sich verabreden will. Dann ploppt Werbung für Kosmetik auf. Und dann lesen wir noch eine Meldung über den Putsch in Myanmar. Das sind völlig unterschiedliche und auch alles andere als gleichwertige Informationen, aber sie wirken alle gleichbedeutend. Kein Wunder, dass wir die Orientierung verlieren.


 

Und dann sind wir bei der Attraktivität von Populisten angekommen, die scheinbar einfache Lösungen für komplizierte Probleme anbieten?


 

Populisten bedienen eine Sehnsucht nach Autokratie, die sich aus der Überforderung der Menschen im Alltag ergibt. Besonders gefährlich sind allerdings jene Populisten, die die Mechanismen der modernen Kommunikation verstanden haben und sie für sich perfektionieren. Sie schüren dann noch mehr Ängste und gerieren sich als Erlöser von einem Übel, das sie selbst in die Welt gesetzt haben.


 

Seien wir konkret: Boris Johnson regiert mit Großbritannien eine der ehrwürdigsten Demokratien der Welt. Die Art, wie er den Brexit durchgesetzt hat, ist aber höchst umstritten. Wie beurteilen Sie seine Art, Politik zu machen?


 

Boris Johnson ist kein Autokrat, aber er nutzt die gleichen Mittel. Die EU-Gegner haben die Wahl gewonnen, indem sie die Furcht der Briten vor dem demografischen und wirtschaftlichen Wandel wie vor dem Verlust der nationalen Einzigartigkeit instrumentalisiert haben. Was geradezu perfide ist: Johnson war es egal, ob Großbritannien in der EU bleibt, wahrscheinlich wäre ihm ein Verbleib sogar lieber gewesen. Aber er sah im Brexit eine Gelegenheit, um an die Macht zu kommen. Zu Recht.


 

Für Millionen Trump-Wähler hat auch der 45. Präsident der USA recht, wenn er von Wahlbetrug spricht. Wie ist es um den Realitätssinn der Anhänger von Donald Trump bestellt?


 

Mit der Wirklichkeit ist es so eine Sache. Trump und die Republikaner haben es mit Hilfe ihnen wohlgesonnener Medien geschafft, eine alternative Realität zu schaffen, in der Trump die jüngste Wahl gewonnen hat. Bis zu 30 Prozent der Amerikaner leben in Trumps Parallelwelt. Ein vergleichbares Problem haben Sie übrigens in Deutschland auch.


 

Wie bitte?


 

Schätzungsweise zehn Prozent der Deutschen leben in einer Welt mit "alternativen Fakten". Weil es vergleichsweise wenige sind, wird das Problem nicht richtig ernst genommen. Aber ich muss Sie warnen: Es könnte größer werden.


 

Sollten wir Deutschen und Europäer es nicht besser wissen, als autoritären Weltanschauungen anzuhängen? Deutschland, Italien, Spanien und Portugal etwa waren Diktaturen. Von Osteuropa ganz zu schweigen.


 

Viele Menschen, die diese Diktaturen noch bewusst erlebt haben, sind inzwischen tot oder im Greisenalter. Die Jüngeren lernen bestenfalls in der Schule etwas über diese Zeit. Wir begehen auch einen Denkfehler: In unser Vorstellung rollen Panzer auf den Straßen, wenn eine Diktatur errichtet wird. So wie wir es jetzt in Myanmar gesehen haben. Aber moderne Autokraten versuchen, ihr Regime auf mehr oder weniger legale Weise zu errichten. Ohne Staatsstreich oder Soldaten, die ein Parlament stürmen. Orbán musste in Ungarn auch niemanden umbringen, um eine Quasi-Diktatur zu errichten. Den Leuten wird zu spät bewusst, dass sie irgendwann in einer Autokratie leben. Gegenwehr bleibt aus.


 

Wie sollte die Europäische Union auf die Demontage des Rechtsstaats in Ungarn und Polen reagieren?


 

Ironischerweise kann die EU ihre Mitglieder engmaschig in Sachen Wirtschaft und Finanzen überwachen. Aber nicht in Sachen Demokratie und Rechtsstaat. Mein Rat in Bezug auf Orbán wäre es, den Geldflüssen zu folgen. Es ist offensichtlich, dass er Geld aus EU-Quellen dazu benutzt, sein Regime zu stärken.


 

Stellt die Corona-Pandemie eine neue Gefahr für die Demokratie dar? Selbst in Staaten des Westens wurden massiv Grundrechte außer Kraft gesetzt.


 

Da bin ich nicht so pessimistisch. Welche demokratischen Staaten haben sich zumindest 2020 ganz gut geschlagen bei der Eindämmung des Virus? Vor allem Länder wie Deutschland und Taiwan, in denen das Vertrauen der Bürger in Politik und Behörden recht groß ist. Weniger effizient waren etwa die USA und Brasilien.


 

Seit es ums Impfen geht, hat sich das Bild allerdings etwas gewandelt.


 

Jetzt beurteilen die Menschen ihre Regierungen danach, wie effizient sie Impfstoffe besorgen und unters Volk bringen. Deutschland schneidet dabei nicht gut ab. Ich hätte das nie für möglich gehalten. Diese Schwäche kann für die Bundesregierung und auch die EU eine Vertrauenskrise nach sich ziehen.


 

Von der Corona-Krise abgesehen: Wie können sich Demokratien am besten gegen ihre Feinde schützen?


 

Zunächst einmal sollten wir ehrlich sein: Ungarn etwa wurde nicht härter von der EU angegangen, weil deutsche Unternehmen dort ihre Geschäfte nicht gefährdet sehen wollten. Grundsätzlich gilt, dass wir vor allem die Feinde der Demokratie klar benennen sollten. Mit Joe Biden amtiert nun endlich wieder jemand im Weißen Haus, der das tun will.


 

Wer sind denn global betrachtet die größten Feinde der Demokratie? China und Russland?


 

China will Geschäfte machen und seine Einflusszone ausweiten. Aber es ist nicht das eigentliche Problem. Wladimir Putin ist für Deutschland viel gefährlicher als Xi Jinping. Und für die Demokratien weltweit. Denn Russland will unsere politischen Systeme untergraben, deshalb finanziert es die extreme Rechte in Europa und betreibt Desinformation.


 

Hat Deutschland einen zu naiven Blick auf das Russland unter Wladimir Putin?


 

Ja. Die Deutschen ahnen nicht, wie gefährlich Putin ist. Ich beschreibe Ihnen einfach mal die Realität: Putin will die EU zerstören, er will, dass die deutsche Demokratie scheitert. Wenn es nach ihm geht, sollen alle US-Soldaten Europa verlassen, damit er die Beziehungen zu den europäischen Staaten dominieren kann.


 

Noch mal: Wie können wir uns wehren?


 

Was wir nicht brauchen, ist ein großer Gipfel des Westens mit Joe Biden, Angela Merkel und Emmanuel Macron auf einem Gruppenfoto als Höhepunkt. Vielmehr müsste man entschlossen daran gehen, das Bündnis unter den Demokraten und die gemeinsamen Werte wiederzubeleben.


 

Sollte der Westen nicht vor allem wieder glaubwürdiger werden?


 

In der Tat. Es gibt zwei wichtige Baustellen. Zunächst einmal das Internet. Wissen Sie, was Chinesen sehen, wenn sie unser "westliches" Internet betrachten?


 

Google, Facebook und Co.?


 

Richtig. Sie sehen kein demokratisches Internet, das auf den Werten Offenheit und Transparenz beruht, sondern ein Internet, das von ein paar großen Techkonzernen beherrscht wird, die sich ihre eigenen Regeln machen. Soll so unsere Alternative zu dem "chinesischen" Internet aussehen, das Überwachung und Zensur unterliegt? Ich hoffe nicht.


 

Was ist die zweite Baustelle?


 

Wir müssen die Geld- und Finanzierungsquellen der Diktaturen trockenlegen. Ein Beispiel: Russland ist ein sehr korruptes Land, seine Führung ist sogar extrem korrupt. Das wissen auch die Russen. Wenn sie Richtung Westen blicken, sehen sie aber, dass ein Großteil des Geldes, das ihre Eliten zusammengerafft haben, bei Banken in Großbritannien, Frankreich und anderswo liegt. Und dass russische Milliardäre in London Villen besitzen und dort mit ihren britischen Freunden Partys feiern. In Paris und Berlin übrigens auch.


 

Eine letzte Frage: Hat die Demokratie angesichts der Verlockung des Autoritären, wie Sie Ihr Buch betitelt haben, überhaupt eine Zukunft?


 

Das liegt an uns. Demokratien verlangen ihren Bürgern immer etwas ab: Teilnahme und Auseinandersetzung auf der einen Seite, aber auf der anderen eben auch die Verteidigung ihrer Werte.


 

Frau Applebaum, vielen Dank für das Gespräch.


 

Anne Applebaum, geboren 1964 in Washington, D.C., ist Historikerin und Journalistin. Sie arbeitete für renommierte Blätter wie "The Economist" und "The Spectator", derzeit ist Applebaum Autorin für "The Atlantic". Zudem lehrte sie an zahlreichen Hochschulen wie Yale, Harvard, Oxford und Cambridge. Die Osteuropa-Expertin ist Autorin verschiedener Bücher, für ihr Werk "Der Gulag" von 2003 hat Applebaum den Pulitzerpreis erhalten. Am 12. März erscheint ihr neues Buch "Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist" auf Deutsch.