ER SITZT NICHT MEHR DA....
(Eine Kurzgeschichte zu Toleranz und Menschenwürde)



Es ist 8,00 Uhr. Er sitzt nicht mehr da.

Jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit hatte ich zwei Brötchen gekauft. Eins für mich, eins für ihn.


Ich ging durch die Bahnhofstraße, durch die Bahnhofshalle und dann zu seinem Platz und gab ihm ein Brötchen.

Jeden Morgen um 8,00 Uhr das gleiche Bild, das gleiche Zeremoniell.

Er sah glücklich aus, das betonte er immer wieder. Ich denke nach, wo er hin ist. Hat er einfach den Ort gewechselt oder wurde er wieder mal vom Sicherheitsdienst verjagt, wie schon so oft?


Ich weiß es nicht, aber ich denke, es geht ihm gut.

Er ist ein sehr friedlicher Mensch, der sich zudem sehr gut ausdrücken kann. Andere Kleidung und ohne seinen "zottigen" Bart könnte man denken, dass er Anwalt, Arzt oder Lehrer war.

Er wurde schon oft vertrieben. Er passe nicht in das Bild der Arbeitenden. So ein Unsinn, sagte ich mir!

Ich ärgere mich über solche Leute, von denen es leider immer noch viel zu viele gibt.

Jedem kann so etwas passieren. Umso schrecklicher sind doch die, die nicht nachdenken, sondern nur sehen und schlecht urteilen.

Mein Zug hat wieder mal Verspätung, über die Bahn sollte man sich aufregen, aber nicht über diejenigen, die so sind, wie sie sind.

Es war wie eine tiefe Freundschaft mit ihm. Wir verstanden uns gut, auch wenn wir nicht viel miteinander redeten. Ich mochte ihn sehr, hatte auch Mitgefühl mit ihm.

Doch er war glücklich und ich, wenn ich ihm helfen konnte.
 
Mein Zug kommt und ich steige ein. Setze mich auf einen freien Platz, gegenüber liest eine ältere Dame die Zeitung. Ein Artikel sprang mir sofort ins Gesicht:

„Obdachloser gestern in Bahnhofshalle tot geprügelt!"