Brief an Jana aus Kassel

Von Amed Sherwan

https://jungle.world/blog/von-tunis-nach-teheran/2020/11/brief-jana-aus-kassel


 

Liebe Jana (22) aus Kassel,


 

du stehst auf einer Bühne in einem demokratischen Land, beschimpfst die Regierung und wirst dabei von der Polizei geschützt. Deshalb vergleichst du dich mit einer Frau, die in einer faschistischen Diktatur im Untergrund als Widerstandkämpferin aktiv war und dafür hingerichtet wurde.


 

Ich bin mit 15 Jahren im Irak dafür inhaftiert und gefoltert worden, dass ich dem Islam kritisiert habe. Und ich bin nun in Deutschland als Aktivist unterwegs. Dennoch würde ich mich nie mit den vielen Menschen vergleichen, die in islamofaschistischen Diktaturen für Meinungsfreiheit kämpfen und gekämpft haben. Denn ich lebe in Deutschland und werde bei meinen Aktionen von der Polizei geschützt. Und selbst meine Erlebnisse im Irak sind ein Witz gegen das, was Leute in Saudi-Arabien, im Iran, in Mauretanien oder anderen Ländern erleben. Und gegen die Erlebnisse der Leute in IS-Knästen war meine Gefängnisepisode ein Kuraufenthalt.


 

Wie kommst du auf die durchgeknallte Idee, dass du in Gefahr bist? Du demonstrierst gemeinsam mit Tausenden, und ihr habt dabei Polizeischutz, obwohl ihr gegen alle Auflagen verstößt und die krassesten Lügen über die Regierung verbreitet. Hast du eine Ahnung, was das für ein Privileg ist, so viel Meinungsfreiheit zu haben, dass du mit einem Schild rumlaufen kannst, auf dem steht, dass du keine Meinungsfreiheit hast? Weißt du, in wie viel Ländern der Welt du für sowas sofort eingesperrt werden würdest?


 

Und ja, auch in Deutschland gibt es Grund zur Sorge, z.B. vor islamistischen Gruppen und andere faschistische Bewegungen, die die Meinungsfreiheit in Gefahr bringen. Aber mit den letztgenannten demonstrierst du gemeinsam. Du lässt dir von Nazis Beifall klatschen und vergleichst dich mit Sophie Scholl, die von Nazis ermordet worden ist.


 

Und ja, es ist gerade für viele Menschen schwer. Ich bin auch vom Lockdown betroffen und kann im Moment nicht als Tellerwäscher arbeiten. Ich kann auch keine Lesungen machen und so mit Menschen Zusammensein, wie ich es am liebsten bin. Aber ich bin froh, in einem Land zu leben, wo die Pandemie so gut im Griff ist. Das sieht an anderen Orten echt anders aus.


 

Und ja, Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Ich weiß das, weil ich auch ein Leben ohne kenne. Und deswegen muss ich wohl auch ertragen, dass du so einen Scheiß von dir gibst. Aber es fällt mir so verdammt schwer. Ich kapiere echt nicht, wie Leute, die mit so viel Freiheit und Bildung aufgewachsen sind, so crazy drauf sein können. Aber vielleicht ist es genau das Problem, dir geht es so fucking gut, dass du schon bei den kleinsten Unannehmlichkeiten im Alltag durchdrehst. Ich wünsche dir, dass du nie erlebst, was echte Meinungsdiktatur bedeutet.


 

Viele Grüße

Amed (22) aus Flensburg