Der Gestern-Kandidat

Wie so oft reicht bei Friedrich Merz eine Andeutung: Seine Aussage zur Homosexualität zeigt, wie weit er inzwischen im Abseits steht. Selbst seine Unterstützer schweigen.

Von Ferdinand Otto

https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-09/friedrich-merz-homosexualitaet-aussage-kanzlerkandidatur

 

Friedrich Merz zehrt von der Erinnerung an damals. Eine Zeit, als es noch so was wie eine transatlantische Freundschaft gab. Eine Zeit von Steuererklärungen und Bierdeckeln. Eine Zeit, bevor die gesellschaftlichen Frontverläufe und politischen Problemlagen eine Komplexität erreichten, die die Parteien oft genug sprachlos zurücklässt. Vor dem Brexit, vor Trump, vor Fridays for Future, vor der Flüchtlingskrise und der AfD.

 

 

Es ist sicher kein Zufall, dass die CDUler am lautesten Merz zujubeln, die das nicht selbst miterlebt haben – weil sie da noch nicht geboren waren (wie die Mitglieder der Jungen Union) oder weil sie nur durch die Maschen eines sehr engen Zaunes rund um Osteuropa in das gute alte Merz-Land blinzelten (wie die ostdeutschen CDU-Landesverbände).

 

Und dann gibt es die, die nicht jubeln. Weil sie in den vergangenen Jahren, die Merz aus der Spitzenpolitik verschwunden war, vor allem einen nie gekannten Freiheitsgewinn sehen. Für Frauen – nicht nur für die, die Kanzlerin werden wollen. Für Migranten, die noch nie so selbstverständlich für ihren Platz in der Gesellschaft eingestanden sind. Für Homosexuelle, die heiraten können und, wie Jens Spahn, CDU-Chef werden wollten. Die, die nicht jubeln, sehen genau deshalb in Merz einen Zombie aus einer anderen Zeit, die vieles war, aber bestimmt nicht besser.

 

Und das werden auch in der CDU immer mehr. Selbst sein jahrelanger Förderer und Freund Wolfgang Schäuble ließ vor ein paar Monaten im Doppelinterview mit Spahn in der ZEIT durchblicken: Is’ gut Friedrich, lass bleiben.

 

Merz und die Kurzarbeit

Merz’ gesamtes Comeback als Politiker wuchs aus den starken Bildern, die der ehemalige Fraktionsvorsitzende der Union im Bundestag auszulösen weiß. Und wie das bei einmal gelernten Reflexen so ist, braucht es dafür nicht viel. Im Guten wie im Schlechten.

 

Wenn es gut läuft, gelingt es Merz, der sich gerade zum zweiten Mal nach 2018 um den CDU-Vorsitz bewirbt, regelmäßig, die Säle im Land zum Jubeln zu bringen. Dafür reichen ihm ein paar Andeutungen, ein schiefes Lächeln hier, eine hochgezogene Augenbraue dort. Man tritt ihm sicher nicht zu nahe, wenn man sagt, dass die, die da jubeln, mit ihm die starke Assoziation verbinden zu einer Zeit, der gemeinhin die Attribute "gut" und "alt" anhaften.

Am Montag reichte Merz wieder eine Andeutung. Gegenüber der Bild-Zeitung sagte er, auf die Frage, ob ein homosexueller Kanzler für ihn ein Problem sei: "Also, ich sage mal so über die Frage der sexuellen Orientierung: Das geht die Öffentlichkeit nichts an. Solange sich das im Rahmen der Gesetze bewegt und solange es nicht Kinder betrifft – an der Stelle ist allerdings für mich eine absolute Grenze erreicht –, ist das kein Thema für die öffentliche Diskussion."

 

Merz' Antwort ist streng semantisch nicht homophob. Aber er muss eben nicht explizit werden: Ein schwuler Kanzler, kein Problem. Warum driftet er von Homosexualität sofort aufs Thema Pädophilie ab? Ganz so wie jene Fünfzigerjahremänner, die alles jenseits der monogamen heterosexuellen Ehe für gleichermaßen abartig und bestrafenswert hielten. In einem Interview mit der Welt schiebt er sofort nach, es sei "bösartig", so einen Zusammenhang zu konstruieren – ein Zusammenhang, den er ja allerdings selbst hergestellt hat, indem er Homosexualität und Pädophilie in einen Satz packte.

 

Wie Jens Spahn auf Merz reagiert

Das Verhältnis der Union zur Homosexualität war nie einfach. So zierte sich die Bundeskanzlerin lange, die Ehe für Alle freizugeben – und stellte es ihrer Fraktion dann auch noch frei, dafür oder dagegen zu stimmen. Dass die Aufregung über die Merz-Aussage in allen CDU-Ortsverbänden ähnlich groß ausfällt wie im politischen Berlin, darf auch 2020 noch bezweifelt werden. Aber selbst wenn die Delegierten, die auf dem Parteitag einen neuen CDU-Chef bestimmen, Merz' Aussage persönlich nicht empörend finden, so bekommen sie doch mit, was das in weiten Teilen der Bevölkerung auslöst. Und die deutschlandweite Wählbarkeit spielt eben auch eine wichtige Rolle für die Frage, wen die CDU aufstellt.

 

Auffällig ist zudem, dass niemand Merz zur Verteidigung beispringt. Weder öffentlich – die Twitter-Schlacht um die Deutungshoheit führt sein Pressesprecher weitgehend allein – noch im Hintergrundgespräch. Zu toxisch ist scheinbar im Moment eine allzu große Nähe. Kein gutes Vorzeichen mit Blick auf seine Kandidatur.

 

Als Jens Spahn auf Merz' Ausfall angesprochen wurde, konnte man den Zorn förmlich in ihm aufsteigen sehen. Er würgte sich gerade noch eine schmallippige Antwort heraus: "Wenn die erste Assoziation bei Homosexualität Gesetzesfragen oder Pädophilie ist, dann müssen Sie die Frage eher an Friedrich Merz richten, würde ich sagen." Merz und Spahn, zwei Konservative aus zwei Generationen: Manchmal wird eben erst im direkten Vergleich klar, wie sehr zwei Jahrzehnte gesellschaftliche Modernisierung auch die CDU und ihr Spitzenpersonal mitgeprägt haben.

 

Aber eben nicht Merz, der in gut dotierten Wirtschaftsjobs überwintert hat. Wie sehr er den Draht zur Gegenwart verloren zu haben scheint, wird an einer anderen Stelle im Bild-Interview noch deutlicher. Zur Frage der Kurzarbeit fällt Merz nichts anderes ein als: "Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht daran gewöhnen, dass wir ohne Arbeit leben können." Ganz so, als wäre Kurzarbeit ein staatlich finanziertes Wohlfühlprogramm und würde nicht für Hunderttausende Familien, die von Monat zu Monat leben, dramatische Gehaltseinbußen und Existenzängste bedeuten. So kann eigentlich nur reden, wer die Hartz-Reformen bestenfalls im Rückspiegel miterlebt – und alle Debatten um Work-Life-Balance und New Work verschlafen hat.

 

Eine Pointe hat es dann noch, wenn sich Merz im Dezember in Stuttgart auf dem CDU-Parteitag zur Wahl stellt. Die Delegierten werden wohl auf Empfehlung des Bundesvorstands die Parteisatzung ändern (möglich, dass dieser Punkt noch von der Tagesordnung fällt, weil der Parteitag von drei auf einen Tag herunter gekürzt wird): Die Lesben und Schwulen in der Union, kurz LSU, wird als Sonderorganisation anerkannt – also mit wichtigen innerparteilichen Stimmen wie der Frauenunion und der Mittelstandsunion gleichgestellt.