Bei manchen Linken brechen alle Dämme der Rationalität

VON RAINER BALCEROWIAK 

https://www.cicero.de/innenpolitik/corona-krise-politik-linke-virus

 

Eigentlich könnten sich Linke derzeit freuen: Denn die Bundesregierung macht in der Corona-Krise ihre Politik. Doch stattdessen hört man aus dem linken Spektrum radikales Maulheldentum und wirre Verschwörungstheorien. Damit werden auch die verhöhnt, die man vorgibt zu vertreten.

 

Eigentlich müssten sich eher links eingestellte Menschen in Deutschland derzeit verwundert die Augen reiben und verhalten applaudieren. Was das Bundeskabinett in den letzten Tagen verkündet und auf den Weg gebracht hat, klingt teilweise wie aus dem Koalitionsvertrag einer „rot-rot-grünen“ Regierung extrahiert.

 

Die „schwarze Null“ und damit das finanzpolitische Primat der Haushaltskonsolidierung ist auf unabsehbare Zeit Geschichte, es gibt Direktzuschüsse für gebeutelte Kleinselbstständige, ein gigantisches Programm für Kurzarbeitsgeld zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit, ein Kündigungsverbot für Mieter, die ihre Zahlungen derzeit nicht leisten können, direkte Krankenhausfinanzierung statt Fallpauschalen, staatliche Grundsicherung ohne Vermögensprüfung und vieles andere mehr.

 

Grundsätzliche Fragen werden nach der Krise geklärt

Eher moderate Politiker wie Dietmar Bartsch, der Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, erkennen dies auch durchaus an. „Die Linksfraktion wird alle Maßnahmen unterstützen, die Solidarität befördern, Schaden von unserem Land, den Menschen und der Wirtschaft abwenden“, erklärte Bartsch vor einigen Tagen. Grundsätzliche Fragen werde man nach der Krise erörtern.

 

Auch der zum linken Flügel der Partei gehörende Vize-Fraktionsvorsitzende und Finanzexperte Fabio De Masi sagt klipp und klar: „Wir brauchen jetzt einen starken Staat", denn „schnelle Hilfen für bedrohte Existenzen sind unabdingbar“. Die Gesundheit der Bevölkerung und der Schutz von Wirtschaft und Arbeitsplätzen habe Vorrang. Doch für Teile der Partei ist das ein ungeheuerlicher Verrat, an was auch immer.

 

Neue Chancen für die Linke

Bastian Reichardt, Ko-Sprecher der in Nordrhein Westfalen recht einflussreichen „Antikapitalistischen Linken“ (AkL) warf den beiden in einem Kommentar in der Tageszeitung Junge Welt vor, „keinen Klassenstandpunkt“ einzunehmen. Linke müssten aufzeigen, „dass die Krise ihren Ursprung im kapitalistischen System hat, und durch die Corona-Pandemie nur verstärkt wurde“. Auch sei nicht hinzunehmen, dass die Linken-Spitze jetzt „die Ausweitung staatlicher Repressalien“ toleriere, wie etwa „Restriktionen im Versammlungsrecht“.

 

Vielmehr müssten Linke „jetzt die Chance ergreifen, ihre Positionen populär zu machen. Sie müssen aufzeigen, dass sie im Angesicht der Krise schon immer auf der richtigen Seite der Geschichte standen“. Das klingt bereits einigermaßen wahnsinnig, doch es geht noch irrer. So erklärte der Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete Mehmet Yildiz in einem Interview mit dem türkischsprachigen Nachrichtenportal Avrupa Postası: „Dieses Virus ist nicht von selbst aufgetreten, Corona ist ein Labor-Virus und dient den Imperialisten dazu, China aufzuhalten und den Klassenkampf von oben zu verschärfen.“

 

Die Dämme der Rationalität sind gebrochen

Auch in Teilen des außerparlamentarischen linken Spektrums sind längst alle Dämme der Rationalität gebrochen. Im weit verbreiteten Portal „labournet“ ist von einer „Gesundheitsdiktatur“ die Rede. Die eingeleiteten Schutzmaßnahmen dienten dazu, „dass ein von Angst getriebenes Volk seiner eigenen Entrechtung zustimmt“. Immer wieder werden dabei die in der Verfassung verbrieften Grundrechte ins Feld geführt, etwa auf Versammlungs- und Bewegungsfreiheit und die Freiheit der Berufsausübung.

 

„Vergessen“ wird dabei aber meistens, dass das Grundgesetz dem Staat auch eine umfassende Schutz- und Fürsorgepflicht gegenüber seinen Bürgern auferlegt. Und für den Fall einer Pandemie, deren dramatische Gefährlichkeit besonders in Bezug auf das Gesundheitswesen wohl kaum ernsthaft zu bestreiten ist, gibt es eine klare gesetzliche Grundlage. Das Infektionsschutzgesetz listet die möglichen Eingriffe in Grundrechte recht detailliert auf.

 

Die Krise zu bewältigen, bedeutet Weichen zu stellen

Natürlich sind einige kritische linke Anmerkungen zur Corona-Krise durchaus berechtigt. Das zunehmend privatisierte und auf Profitabilität getrimmte deutsche Gesundheitswesen bekommt jetzt die bittere Rechnung für den jahrelangen Stellenabbau in den Kliniken, in denen vielfach schon vor dieser Krise Pflegenotstand herrschte.

 

Diese Krise zu bewältigen heißt daher auch, in diesem Bereich grundlegend andere Weichenstellungen vorzunehmen. Das gilt auch für einige soziale Sicherungssysteme. Es darf nicht sein, dass unvorhersehbare Einnahmeausfälle bereits nach wenigen Tagen und Wochen zur existenziellen Bedrohung für viele Millionen Menschen werden können.

 

Der Staat und seine Legitimation zum Katastrophenschutz

Auch die Fragen nach der Verhältnismäßigkeit von staatlichen Eingriffen, etwa in die Bewegungsfreiheit, dürfen und müssen gestellt werden, allerdings nicht mit dem Tenor, dem Staat quasi jegliche Legitimation zum wirksamen Katastrophenschutz abzusprechen, den es ohne Eingriffe in diese Rechte nicht geben kann.

 

Doch wer jetzt mit linksradikalem Maulheldentum und wirren Verschwörungstheorien sein schales Süppchen in der Krise kochen will, bewegt sich nicht nur in grotesker Realitätsverweigerung, sondern verhöhnt auch diejenigen Menschen, für die er vorgibt, zu kämpfen. Deutschland hat in der Anfangsphase der Pandemie viel Zeit verloren und es bedarf einer Kraftanstrengung historischen Ausmaßes, um die wirtschaftlichen, sozialen und vor allem gesundheitlichen Folgen einigermaßen einzudämmen.

 

Die Bundesregierung hat nach einer vergleichsweise kurzen Phase der Hilflosigkeit und der föderalen Tändelei jetzt einiges auf den Weg gebracht, sowohl ökonomisch als auch administrativ. Je besser es jetzt gelingt, die Krise beherrschbar zu machen, umso engagierter und fundierter kann und muss anschließend der politische Streit über die künftige Verfasstheit und Organisation unserer Gesellschaft geführt werden. Aber nicht jetzt!