Unser innerer Trump

Eine Kolumne von Sascha Lobo

https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/rechthaber-in-der-corona-krise-unser-innerer-trump-a-6db9ef93-3def-4ade-a8ef-42e8d644417d

 

Es sind goldene Zeiten für alle, die finden, schon immer recht gehabt zu haben: die Naturwissenschaftsgläubigen, die Kapitalismuskritiker und auch die Verfasser des Leopoldina-Papiers. Fehlerkultur? - Fehlanzeige.

 

Es sind nur dann Experten, wenn sie meiner Meinung sind! Denn in der Coronakrise gibt es drei Typen von Menschen. Der erste Typus stirbt. Der zweite Typus spürt Zweifel an sich und allem. Der dritte Typus aber hat recht. Er hatte bereits gestern recht, hat heute in Sachen Corona noch etwas rechter und wird selbstredend auch morgen am allerrechtesten behalten. Corona beschwört unser aller inneren Trump.

 

Die ersten beiden Typen sind nicht so interessant, weil sie nicht mehr da sind oder bloß still ihre Arbeit tun, was für Knalldackel, die in diesen Zeiten mit ihrer Bescheidenheit angeben wollen. Die Rechthaber aber - einfach wow. Die große Rechthabung manifestiert sich darin, dass fast alle öffentlichen Protagonisten des dritten Typus sich selbst* als Lösung der Krise empfehlen:

 

  • Virologinnen und Epidemiologinnen - gut, die sind am ehesten wirklich die Lösung der Krise, da sei ihnen verziehen, dass sie sich ein wenig im Licht der Öffentlichkeit sonnen möchten, wer weiß schon, wann die nächste Pandemie kommt.

 

  • Naturwissenschaftsgläubige offenbaren, dass sie entgegen allen vorherigen Beteuerungen in Geisteswissenschaften doch nur ausgedachten Quatsch sehen, wenn es drauf ankommt. Und die vielen, die ein Virologenwort für heilig und sachliche, aber eben nicht naturwissenschaftliche Kritik daran für Blasphemie halten, zeigen damit doch nur, wie fragil ihre Glaubenswelt ist.

 

  • Ökonomen erklären ihre Weltmodelle zum Maßstab über Leben und Tod und offenbaren damit ihre traditionelle Unfähigkeit zur Abstraktion vom eigenen Fach. Nachdem Ökonomen bisher Soziologinnen die Soziologie erklärten, sind sie anlässlich Corona dazu übergegangen, Epidemiologinnen die Epidemiologie zu erklären.

 

  • Juristen beharren trotz unterschiedlichster Positionen darauf, dass die eigentliche Schlacht auf ihrem Feld geschlagen werde. Wie stets juristifizieren sie das Universum auf anmaßende Weise; hey, Gravitation ist schließlich auch nur ein Gesetz, haha. Wahrscheinlich erkennen empfindsame Juristen einfach irgendwann die Limitierung juristischen Denkens und retten sich gesichtswahrend in die Rechtsphilosophie, wo die Welt zum Fallbeispiel gerinnt.

 

  • Die zweifellos verdienstvollen Wissenschaftler der Leopoldina beginnen ihr Papier mit der Feststellung, dass "der Wissenschaft eine große Verantwortung" zukommt und besser kann man gar nicht zeigen, wie wichtig, sichtig und richtig man ist und schon immer lag.

 

Das Leopoldina-Papier ist trotzdem nicht das Problem, sondern Teil der Lösung, weil die öffentliche Verengung der Coronakrise auf rein virologische Fragen von einem gefährlich unterkomplexen Gesellschaftsverständnis zeugt. Trotzdem stehen Sätze drin wie: "Der Anspruch einer ethischen Perspektive besteht im aktuellen Fall darin, die für unsere Gesellschaft grundlegenden Prinzipien der Gerechtigkeit und der Solidarität bei der Abwägung der unterschiedlichen Zielkonflikte zur Geltung zu bringen." Gelaberalarm, Stufe fünf von drei, schon weil die nachfolgenden Definitionen von "Gerechtigkeit" und "Solidarität" so windelweich sind wie sie nur ein multidisplizinäres, aber monoelitäres Komitee zu geben vermag. Okay, ohne Kontext zitiert. Aber die Verteidigungsphrase "aus dem Kontext gerissen" ist das Arschgeweih der Akademiker. Der letzte Rettungsanker, irgendwie doch noch recht gehabt zu haben mit der Vorhersage, die Welt gehe 2012 unter. Wenigstens metaphorisch oder so.

 

In der Coronakrise ergibt sich ein schlüssiges Bild der deutschen Intelligenzija. Kein besonders schmeichelhaftes; mein Eindruck ist, dass Deutschland in der Krise nicht wegen, sondern eher trotz seiner großintellektuellen Vordenker funktioniert (wenn man von besagten Virologinnen, und, Überraschung, der handelnden Politik absieht). Die zur Krisenbewältigung essenziell notwendige, hoffnungsvolle Stimmung zum Beispiel wird im Moment eher von den Leuten selbst erzeugt als von irgendwelchen Leitfiguren.

 

Das liegt nicht an mangelnder Brillanz, sondern zuvorderst an der Fixierung der ersten Garde aufs Rechthaben und -behalten, an ihrer Aversion gegen das Irrtumseingeständnis und ehrlicher Neubewertung im Versagensfall: an der schmerzlichen Abwesenheit einer öffentlichen Fehlerkultur. Was alle von uns neben einer Restmenschlichkeit wirklich von Trump unterscheiden könnte. Der Blogger und Lehrer Stefan Sasse schreibt in seiner so langen wie cleveren Corona-Betrachtung "Wie Weltordnungen sterben", dass die Rechthabenden "hoffen, dass nun endlich alle einsehen werden, was sie selbst schon immer wussten".

 

Vielleicht ist die Pharmaindustrie doch nicht so überflüssig

Wo sind die Neoliberalen, die sagen: Die Idee, Hunderte Kliniken zu schließen und ausgerechnet "Systemrelevante" schlecht zu bezahlen, war vielleicht nicht besonders hellsichtig? Wo sind die Linken, die sagen: Ja, vielleicht hat die Marktwirtschaft überhaupt erst ermöglicht, in wenigen Wochen Millionen Tests durchzuführen? Wo sind die grünen Homöopathie-Friends und Impfskeptiker, die sagen: Ja, vielleicht ist die Pharmaindustrie doch nicht so überflüssig und böse? Wo sind die Konservativen, die sagen: Echte, auch finanzielle Solidarität über die Worthülse hinaus war vielleicht keine total sinnloser Gedanke? Wo sind die passionierten Deutschlandkritiker, die sagen: Trotz der unbedingt kritikwürdigen Schwierigkeiten läuft es hier weniger schlimm als an den meisten anderen Orten der Welt? Wo sind die Liberalen, die nur ein einziges, gottverdammtes Mal auf die Pose des Gegen-den-Strom-Schreiens verzichten? Die meist selbst autoritären "Corona-Diktatur"-Kreischer muss man nicht erwähnen - aber wo sind die normalen Bürgerinnen und Bürger, die sagen: Okay, vielleicht sind Politik und Medien doch nicht der Haufen Mist, auf den wir gewohnheitsmäßig seit Jahren aus schierer Verantwortungsabwehr schimpfen?

 

Man könnte das über das Politische hinaus noch ausdehnen und die Digitalisierungsskeptiker fragen, wo wir jetzt ohne Homeoffice, Social Networks und E-Commerce wären. Oder die Digitaloptimisten (wie mich) und Datenschutzfundamentalisten (ich nicht), wieso wir frühestens zur nächsten, vielleicht erst zur übernächsten Pandemie ein funktionierendes, nicht gruseliges, lebensrettendes Tracking per Smartphone bekommen. Oder die EU-Kraftprediger, warum es am Ende, wenn überhaupt, doch wieder nur Apple und Google hinkriegen. Sie alle sind so sehr ans Rechthaben gewöhnt, dass ihnen nichts bleibt als die Flucht nach vorn: more of the same. Die Krise ist für Rechthaber eine Kulisse für ihr Lieblingsschauspiel: Ich hatte die ganze Zeit recht und endlich, endlich darf ich es sagen, weil in Notzeiten das Wahre, Schöne, Gute Vorrang hat vor dem "Frauengedöns", das man in ruhigen Zeiten halt aus Mitleid gewähren ließ. Aber jetzt muss Papa ran.

 

Das Leopoldina-Papier enthält Marktradikalismen, die zeigen, hier möchte jemand die früheren Einsparattacken auf die Gesellschaft rechtfertigen - durch neue Einsparattacken auf die Gesellschaft. Auch das ist typisch für die vielen inneren Trumps aller politischen Farben, die jetzt zum Vorschein kommen. Sie orientieren sich nicht an neuen Fakten einer sich schnell wandelnden Welt, sondern wollen einfach rückwirkend schon immer auf der allerrichtigsten Seite von allen gestanden haben.

 

Wir Internet-People kennen diese Leute, die bei egal welcher technischen Neuerung entweder sagen: "Das mache ich seit 1987 auf einem selbst aufgesetzten Linux-Server via IRC mit einem simplen Smalltalk-Protokoll." Oder: "Das wird nicht funktionieren, weil es nicht in C++ gebaut ist." Man muss diesen Quark nicht im Detail verstehen, um das Muster dahinter zu erkennen: Die Unwilligkeit oder Unfähigkeit, neuen Entwicklungen nicht mit den eigenen, alten Werkzeugen zu begegnen. Und zwar, um recht zu behalten: Hier ruht Herr Braun, er hatte Vorfahrt. Wenn man seit Jahrzehnten jeden Maßstab der Menschlichkeit in Geld übersetzt, wird man auch in der Coronakrise Preisschilder an jedes Leben kleben, unterschiedliche natürlich, auch Marktradikalismus ist politischer Radikalismus. Wenn man nur einen Hammer und eine Sichel hat, sieht jedes neue Problem aus wie eine Folge des Kapitalismus. Wenn man nicht realisiert, dass wir vor einer neuartigen Globalkrise stehen, die viele Selbstverständlichkeiten infrage stellt - dann ist man längst zu seinem inneren Trump geworden.

 

* Anmerkung des Autors: Leider muss ich an dieser Stelle eingestehen, dass auch ich als Experte für Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation sowie Digitalisierung schon häufiger den entscheidenden Teil der Lösung der Coronakrise in genau meinen Bereichen gesehen habe. Aber bei mir stimmt es natürlich wirklich!