Verschwörungs-Ideologie zum Mitmachen
Eine Kolumne von Sascha Lobo
Eliten, die Kinder aufessen? Auf der Berliner Corona-Demo waren teils abstruse Erzählungen zu hören. Sie gehören zur derzeit erfolgreichsten Verschwörungsideologie im Netz: QAnon. Der Spott fällt leicht - ist aber falsch.
Mit einer Wahrscheinlichkeit von 72 Prozent finden Sie in Ihrer Wohnung eine Erklärung dafür, dass immer mehr Menschen glauben, es gäbe eine Elite, die Kinder frisst. Gut, dieser Satz ist einigermaßen erklärungsbedürftig, und dazu muss man etwas ausholen.
Am ersten Augustwochenende 2020 fand in Berlin eine Demonstration statt. Zwischen 17.000 und 20.000 Menschen protestierten unter dem Motto "Das Ende der Pandemie - Tag der Freiheit". Eine bunte bis wüste Mischung ging auf die Straße: Friedensmahner, Corona-Leugner, Verschwörungstheoretiker, Antisemiten, Nazis, Esoteriker, Impfgegner, sich in ihren Grundrechten durch Masken eingeschränkt Fühlende. Corona ist zwar der Anlass, aber inhaltlich eint die Menschen eine größere Welthaltung zwischen Hass auf klassische Medien und Zweifel an fast allem außer an sich selbst.
Am Ende ließ sich das Demopublikum politisch in zwei Gruppen einteilen: Rechtsextreme und Leute, die gemeinsam mit Rechtsextremen demonstrieren. SPIEGEL TV war mit einem Team vor Ort und schaffte es, Stimmen von Teilnehmenden einzufangen. Jubel und Sprechchöre zeigten, dass es sich nicht um Einzelmeinungen handelt.
SPIEGEL TV: "Glauben Sie denn, dass es eine Elite gibt, die Kinder entführt?"
Teilnehmer: "Ja natürlich gibt es die ... Unicef holt die Kinder und bringt sie den Eliten."
SPIEGEL TV: "Und was machen die dann damit?"
Teilnehmer: "Essen. Essen, quälen die, trinken das Blut, wenn sie es vorher gequält haben, lassen Kinder gegeneinander kämpfen, der Verlierer wird gefressen. Also, warum wisst Ihr davon nichts?"
Was sich für durchschnittliche Ohren anhört wie ein düsteres Amalgam aus Fiebertraum, schlechter Satire und Wahn, ist die derzeit erfolgreichste und bedrohlichste Verschwörungsideologie im Netz: QAnon.
Die strukturell antisemitische Basis ähnelt vielen anderen Verschwörungserzählungen, eine Elite beherrsche die Welt und wolle die Menschheit versklaven, die Medien seien Handlanger der Mächtigen. Das uralte judenfeindliche Motiv der Kindstötung ist bei QAnon modern aufgeladen. Die Eliten würden weltweit Kinder nicht nur sexuell missbrauchen, sondern auch quälen, weil durch die Folter bestimmte Inhaltsstoffe in ihrem Blut freigesetzt würden. Damit wiederum ließe sich das Leben verlängern - wenn man das Kinderblut trinke. Oder eben die Kinder esse.
Mit einer Wahrscheinlichkeit von 72 Prozent haben Sie ein IKEA-Möbelstück zu Hause und meine Theorie ist, dass darin der Schlüssel zum unwahrscheinlichen Erfolg von QAnon verborgen liegt. Die Verhaltensökonomie hat 2009 den sogenannten IKEA-Effekt entdeckt. Dabei halten Menschen ein Möbelstück für wertvoller und besser, wenn sie selbst daran mitgebaut haben. Sie sind dann auch bereit, über offensichtliche Mängel hinwegzusehen. Dazu muss man nicht einmal besonders umfassend mitgearbeitet haben, wer Billy-Regale zusammenschraubt, ist dadurch ja nicht sofort Möbeldesigner auf dem schöpferischen Höhepunkt.
Der IKEA-Effekt beruht unter anderem auf dem psychologischen Mechanismus der Aufwandsrechtfertigung: Wer viel Energie in eine Angelegenheit steckt, will, dass die Entscheidung richtig und gut war.
Das Geheimnis liegt in der eigenen Rechercheleistung
Das Internet ist ohnehin wie geschaffen für die Entstehung und Verbreitung von Verschwörungstheorien. Aber die gesamte QAnon-Erzählung ist vor allem mithilfe des IKEA-Effekts perfekt auf Überzeugung in sozialen Medien zugeschnitten. Denn die wichtigste Zutat bei QAnon ist die eigene Mitarbeit an der Verschwörungsideologie. Das zeigen auch verschiedene Äußerungen im SPIEGEL-TV-Film:
"Stell Dir diese Fragen und schau selber im Internet nach."
"Was Q heißt, könnt ihr mal nachgooglen."
"Da gibt es Bilder. Kann jeder nachgucken. Auf der ganzen Welt. Ganz schlimm."
"Man muss sich halt selber informieren."
Ein verschwörungsgläubiger Interviewpartner formuliert das Patentrezept von QAnon sogar selbst, bezeichnenderweise im direkten Unterschied zu klassischen Medien: "Im Fernseher oder bei verschiedenen anderen Berichterstattungen kriegst Du eine Meinung. Fertig … eine Meinung wird dir reingetrichtert ... bei Q, da werden dir Fragen gestellt. Er sagt zu dir, stell dir diese Fragen und schau selber im Internet nach."
Diese eigene Rechercheleistung, oft nicht mehr als ein paar Google-Suchen oder YouTube-Stöbereien, ist das Erfolgsgeheimnis von QAnon. Noch immer unterschätzen wir die gesellschaftliche Wirkmacht, die von den ersten zehn Google-Ergebnissen ausgeht. Im zweiten Schritt können alle an der großen QAnon-Ideologie mitstricken. Weil Logik und Konsistenz keine Rolle spielen, lässt sich jede Verschwörungstheorie ganz leicht unter das Dach der QAnon-Ideologie bringen.
Viele bekannte Seiten der Bewegung bezeichnen ihre Tätigkeit als "Forschung", dort werden immer wieder Fragen gestellt und von den Nutzern selbst beantwortet. Die Anhänger sind überzeugt, sich das Verschwörungswissen selbst zu erarbeiten, das macht QAnon so wertvoll für sie. Deshalb grenzen sie sich so heftig von "vorgefertigten Meinungen", dem "Mainstream" und schnöde konsumierten, klassischen Medien ab. Die Vermutung anhand vermeintlicher Puzzle-Stückchen erlaubt allen, selbst kreativ tätig zu werden und am großen QAnon-Werk mitzustricken. Das Zitat einer Behauptung gilt dabei bereits als Beweis. Die Bereitschaft, wirklich jede Phantasie (und fast jede Meinung) als legitim und potenziell wahr zu akzeptieren, wird zu Offenheit und Toleranz umgedeutet.
QAnon stellt meiner Ansicht nach eine neue Form der Verschwörungserzählung dar – ein digitaler, kollektiver Mitmachmythos.
In Deutschland hat QAnon bereits Mordopfer gefordert
Es geht bei QAnon nicht nur um einen Teil der 17.000 Corona-Bewegten auf Berliner Straßen. Es geht darum, dass Verschwörungserzählungen auch dann wirken, wenn man sie nicht vollumfänglich für bare Münze nimmt. Denn sie säen Zweifel - selbst bei denen, die es eigentlich besser wissen müssten. Es mag sich ja aberwitzig anhören, aber was, wenn doch ein Körnchen Wahrheit...?
Mit solchen Fragen sinkt die Bereitschaft, gefährlichem Unfug zu widersprechen. Und gegen das Korrektiv redaktioneller Medien haben sich die QAnon-Anhänger von Beginn an immunisiert. "Ihr seid die Feinde. Der größte Feind Deutschlands oder der westlichen Zivilisation sind die Medien", sagte ein Mann auf der Corona-Demo.
Der Spott über die Abstrusität von QAnon und die vermeintliche Beschränktheit seiner Anhänger fällt allzu leicht, aber ist aus mindestens drei Gründen falsch:
Erstens sind esoterische Alltagsüberzeugungen wie Homöopathie, Anthroposophie oder Astrologie zwar verbreitet und daher für unsere Augen eher gewohnt - aber beim Maßstab der Irrationalität ist große Ähnlichkeit erkennbar, wenn auch meist die offene Menschenfeindlichkeit von QAnon fehlt. Und die "biologisch-dynamische Landwirtschaft", die die Biomärkte der Bundesrepublik beherrscht, beruht unter anderem auf dem Vergraben von mit Kuhmist gefüllten Hörnern sowie auf Mondphasen und Bergkristallen.
Zweitens ist die QAnon-Verschwörungsideologie lebensgefährlich, insbesondere für Rassismus- und Antisemitismus-Betroffene. Oberflächlicher Spott kann deshalb tendenziell zur Verharmlosung beitragen. In Deutschland, dem Land mit den zweitmeisten Anhängern nach den USA, hat QAnon bereits Mordopfer gefordert. Der Attentäter von Hanau tötete zehn Menschen, er glaubte an unterirdische Kindergefängnisse und veröffentlichte Videos mit entsprechenden Warnungen. Dann zog er los und ermordete wahllos Menschen in einer Shishabar. Die ganze Tat ist ein Hinweis auf die so enge wie gefährliche Verbindung zwischen QAnon und Rassismus. Das FBI hat die Bewegung in einem internen Papier als "domestic-terror threat" bezeichnet.
Am bedrohlichsten aber erscheint langfristig der dritte Punkt: Wir erleben mit QAnon potenziell die Entstehung der "Protokolle der Weisen von Zion" des vernetzten 21. Jahrhunderts. Diese gefälschten, fiktionalen, zutiefst antisemitischen Texte wurden 1903 zum ersten Mal veröffentlicht und gelten als eine Art Bibel des Antisemitismus. Die "Protokolle" waren nachweislich eine ideologische Grundlage des Judenhasses der NSDAP. Deshalb ist so überaus gefährlich, dass Donald Trump regelmäßig QAnon-Inhalte verbreitet.