20 Jahre an der Macht 

Wladimir Putin – der starke Mann in Moskau schwächelt

 

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Seit dem Jahr 2000 ist Wladimir Putin in Russland der mächtigste Mann – ein Nachfolger ist nicht in Sicht. Doch das Land hat viele Probleme und die Kritik am Präsidenten wird lauter.

 

Für Kremlchef Wladimir Putin ist Silvester dieses Jahr ein ganz besonders denkwürdiger Tag. 20 Jahre ist es am Dienstag her, dass er erstmals russischer Präsident wurde. Quasi über Nacht. Präsident Boris Jelzin verkündete damals in der Neujahrsansprache an Silvester seinen baffen Landsleuten: "Meine Lieben (...) Ich trete zurück."

 

Die Jahrtausendwende sei der richtige Zeitpunkt für eine neue Politiker-Generation, um Russland nach vorne zu bringen, meinte Jelzin damals mit der schweren Zunge eines Alkoholisierten. Vieles habe er nicht erreicht. Deshalb sollte Putin, damals Regierungschef, die Amtsgeschäfte übernehmen - bis zur Präsidentenwahl im März 2000.

 

Der damals erst 47 Jahre alte Putin gewann die Abstimmung. Und Jelzin, den viele Russen trotz der wirtschaftlich chaotischen 1990er Jahre bis heute für seine demokratische Freiheitsliebe schätzen, verschwand von der Bildfläche.

 

In Kreml übernahm der Ex-KGB-Offizier, der sich bis zum Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB hochgearbeitet hatte, die Macht. Nur einmal von 2008 bis 2012 zog Putin vorübergehend aus, um auf den Posten des Regierungschefs zu wechseln. Die Verfassung lässt nur zwei Amtszeiten als Präsident infolge zu. Putin überließ deshalb Dmitri Medwedew das Amt, der damals für einen liberaleren Kurs sorgte. Dann aber kam Putin zurück. Für zwei weitere Amtszeiten - voraussichtlich bis 2024.

 

Euphorie der Krim-Annexion ist verflogen

Doch nach 20 Jahren mit Putin macht sich nach Meinung vieler Experten in Russland zunehmend Ernüchterung breit. Die nationale Euphorie von 2014 über die von vielen Russen gefeierte "Heimholung" der zur Ukraine gehörenden Schwarzmeer-Halbinsel Krim ist verflogen. Damit wollte Putin wie schon bei seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 Stärke gegenüber dem Westen zeigen.

 

Seit der international verurteilten Annexion der Krim aber stehen die Zeichen auf Konfrontation wie im Kalten Krieg. Sanktionen der EU und der USA und geringes Wachstum setzen Russlands Wirtschaft zu. Viele ausländische Investoren meiden das Riesenreich. Längst ist auch bei vielen Russen angekommen, dass die außenpolitischen Muskelspiele der militärisch wieder selbstbewussten Atommacht im Syrien-Krieg und im Ukraine-Konflikt auf Kosten des Lebensstandards in Russland gehen.

 

Der Wunsch nach Veränderung, nach wirtschaftlichen und sozialen Reformen wächst laut Umfragen von Meinungsforschern rasant. Verbreitet ist demnach der Frust über hohe Preise und Korruption, sinkende Löhne und hohe Arbeitslosigkeit. Viele klagen über eine miese medizinische Versorgung und große ökologische Probleme. Nach einer Umfrage des Moskauer Instituts Lewada finden 43 Prozent der befragten Russen, dass sich ihr Lebensstand 2019 verschlechtert habe.

 

Nach einer anderen Lewada-Umfrage wünschten sich im Juli dieses Jahres 59 Prozent der Befragten vor allem radikale Veränderungen - ein Plus von 17 Punkten im Vergleich zu Juli 2017 (42 Prozent). Interessant dabei aus Sicht der Soziologen: Der in der Vergangenheit meist gegen die Regierung und die dominante Partei Geeintes Russland gerichtete Unmut traf zuletzt auch Putin direkt.

 

Superreiche Oligarchen – schwache Mittelschicht

Dabei konnte sich der Kremlchef viele Jahre dank hoher Rohstoffpreise auf Wachstum und Zufriedenheit in der Bevölkerung verlassen. "Da aber wirtschaftliche Probleme wachsen, sinkt nun die Autorität der Machthaber", stellt die Moskauer Denkfabrik Carnegie Center fest. Der Luxus, mit dem sich Staatsbeamte und Mitarbeiter von Staatskonzernen umgäben, verärgere immer mehr Leute.

 

Nach Jahren der Konzentration auf außenpolitische Stärke sei es an der Zeit, sich um die Probleme im Land zu kümmern, schrieben viele Moskauer Kommentatoren zum Jahresende. Sie kritisierten, dass es an Ideen für die Zukunft fehle. Das Land mit seinem Stolz auf den Sieg der Sowjetunion über den Faschismus lebe zu sehr in der Vergangenheit. Den 75. Jahrestag des Sieges will Putin am 9. Mai 2020 mit Staats- und Regierungschefs aus aller Welt bei der größten Militärparade der russischen Geschichte in Moskau feiern.

 

Zwar räumte auch der Kremlchef zuletzt ein, dass die Unzufriedenheit im Land wachse. Den Start in die 20er Jahre will er deshalb dem Kampf gegen die Armut in Russland widmen. Doch eine Bereitschaft, etwa mehr politische Freiheiten zuzulassen, sieht der Carnegie-Experte Andrej Kolesnikow auch nach den Oppositionsprotesten des Sommers nicht. "Vielmehr hat polizeiliche Willkür die Machtlinie nur noch gefestigt, sich nur nicht auf einen Dialog mit der Bürgergesellschaft oder auf eine Demokratisierung des Systems einzulassen", meint er. "Das autoritäre Regime (...) ist zu intensiveren Repressionen übergangen."

 

Putin war einst die Hoffnung für ein freies Russland

Dabei war Präsident Jelzin bei seinem Rücktritt noch zuversichtlich, dass Russlands totalitäre Zeiten vorbei seien. Putin dankte damals Jelzin in seiner Anschlussrede für das Vertrauen. Und er beteuerte am Silvesterabend: "Die Freiheit des Wortes, des Gewissens, die Freiheit der Medien, die Eigentumsrechte, alle Elemente der zivilisierten Gesellschaft werden verlässlich geschützt." 20 Jahre später sehen Kremlgegner und Menschenrechtler all das weitgehend vernichtet.

 

Verbreitet ist vielmehr die Sichtweise, dass Putin ein System geschaffen hat, das schon aus reinem Selbsterhaltungstrieb alles daran setzen wird, dass er Kremlchef bleibt. Militär, Geheimdienste, Kirche und systemtreue Oligarchen stehen fest an seiner Seite. Putin selbst lässt offen, wie die Machtfrage nach seiner laut Verfassung letzten möglichen Amtszeit 2024 gelöst wird.

 

Ein Nachfolger ist nicht in Sicht. Möglich ist aber, dass der 67-Jährige die Verfassung ändern lässt für ein Regieren ohne Ende. Im Parlament hat die ihm treu ergebene Partei Geeintes Russland dafür eine bequeme Zweidrittelmehrheit. Wladislaw Surkow, einer der führenden Ideologen im Kreml, rief in diesem Jahr den "Putinismus" zum Jahrhundertprojekt aus - als Beispiel auch für andere Länder. Die große politische Maschine Putins nehme gerade erst an Fahrt auf. Eine Maschine, die eine liberale Politik des Westens für tot erklärt hat.

 

Bei seiner traditionellen Pressekonferenz im Dezember räumte Putin - wie Jelzin vor 20 Jahren - zwar ein, dass das Land weiter viele schwere Probleme habe. Lösen will er sie aber selbst. Ob er trotzdem an Silvester freimacht und den 20. Jahrestag seiner ersten Amtsübernahme feiert? Kremlsprecher Dmitri Peskow bemerkte dazu unlängst nüchtern: "Der Präsident arbeitet wie ein Hochofen, der nicht stillzulegen ist, weil er ohne Pausen heizen muss."

 

 

Kommentar: 

 

Putins Antwort auf Krisen im Innern: er mobilisiert zum Kampf gegen äußere Feinde. Also Krieg.

 

Zur Machtübernahme führte er das Land in den zehnjährigen 2. Tschetschenienkrieg (80.000 Tote). 2014 ließ er die Krim annektieren, den Donbass besetzen. Bis heute starben 15.000 Ukrainer. 2015 schickte Russland seine Luftwaffe in den Syrien-Krieg, deckte die Giftgasangriffe des Diktators Assad, griff selbst in den Bombenkrieg ein. Das Ergebnis: Tausende Tote. Der Lohn: Ölquellen.

 

Aber auch in der asymmetrischen Kriegsführung ist der Kreml aktiv, mischt sich via Trollfabriken in den US-Wahlkampf, in die Brexit-Abstimmungen, in Wahlen in Osteuropa ein, lässt Bundestagsnetzwerke in Berlin knacken.

 

Ein Blick zurück zeigt wie damals 1999 die Putin-Ära begann.

 

Es begann sehr russisch: Die Wahrheit verpackt als Scherz. Am 20. Dezember 1999, dem Feiertag der Geheimdienste, witzelte der damalige Ministerpräsident Russlands und Ex-Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB vor Agenten: Die in die Regierung abkommandierten Spione hätten „ihre Aufgabe bisher gut erledigt“.

 

In einem Land, in dem viele Männer ein Alkoholproblem haben und früh sterben, sendet Putin das Signal vor allem auch an die weibliche Bevölkerung: „Ich bin 67, aber noch total fit. Ich achte auf mich und ich achte auf Russland.“

 

Seine „Erfolge“:

►90 Prozent aller Medien sind unter Staatskontrolle. Größte Medienmacht: Gazprom Media. Kritische Journalisten werden ermordet (u. a. Anna Politowskaja, 2006), inhaftiert, ausländische Verlage verjagt.

 

► Die Konzerne von Regierungskritikern wurden brutal enteignet. Der Ölkonzern Rosneft (Aufsichtsratschef: Gerhard Schröder) basiert auf den Schauprozessen gegen Jukos-Eigner und Putin-Kritiker Michail Chodorkowski.

 

► Opposition wird nicht zugelassen, kriminalisiert (Alexej Nawalny), umgebracht (Boris Nemzow, 2015).

 

Vor allem aber hat Putin die Chance verpasst, das Land zu reformieren: Es ist abhängig vom Verkauf seiner Gas- und Öl-Vorkommen, vernachlässigt die Produktion.

 

Die Folgen des Putinismus:

 

► Rubel-Absturz: in 20 Putin-Jahren minus 60 Prozent im Verhältnis zu Euro/Dollar!

 

► Verarmung: Die Lohnentwicklung (zuletzt +2,4 %) hält mit der Inflationsrate (4 %) nicht mit. Das Aufstiegsversprechen an die Mittelschicht bleibt unerfüllt, selbst nach offiziellen Zahlen leben 14,3 Prozent der Russen wieder in Armut.

 

► Kapitalflucht: Russlands Millionäre lassen nur ein Drittel ihrer Vermögen im Land – der Rest arbeitet im sicheren Westen.

 

Ergibt sich die Frage, wann beginnt Putin, das es innenpolitisch kriselt, außerhalb Russland wieder eine kriegerische Auseinandersetzung. Dazu „angerichtet“ ist eigentlich alles. Zumal sein US-amerikanisches Pendant, Trump, sich mit seiner Großspurigkeit in ähnliche außenpolitische Positionen brachte.

 

Für den Frieden sieht es einmal mehr nicht gut aus.

 

Wanda Müller