Ukraine-Konflikt: Wer ist Wladimir Putin? Und was will er?

Von Stefan Scholl


 

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Wladimir Putin wandelt im Ukraine-Konflikt diplomatisch und militärisch an den Rand des Abgrundes – das politische Psychogramm des einsamen Mannes im Kreml.


 

Moskau - „Ich kann mit Zuversicht sagen: Das Hauptziel der Innenpolitik Russlands ist vor allem die Gewährleistung der demokratischen Rechte und der Freiheit.“ Wladimir Putin sprach Deutsch. Trotz mancher Ungeschicktheit schlage „unter allem das starke und lebendige Herz Russlands, welches für eine vollwertige Zusammenarbeit und Partnerschaft geöffnet ist“. Einen Moment später erhob sich der Deutsche Bundestag geschlossen und applaudierte Russlands jungem Präsidenten.


 


 

Putins umjubelter Auftritt in Berlin ist fast 20 Jahre her. Und die Botschaften des russischen Präsidenten an die westliche Welt klingen nun ganz anders: „Warum haltet Ihr uns für Blödmänner?“, fragte der russische Staatschef einen BBC-Reporter schon im Dezember 2020.


 

Die ukrainische Regierung berichtet von inzwischen 127.000 russischen Soldaten, die mit schweren Waffen in Grenznähe konzentriert sind. Westliche Fachleute befürchten, Putin könne jederzeit eine Invasion beginnen. Er will der Nato nicht nur neue östliche Mitglieder verbieten, sondern sie militärisch auch auf die deutsch-polnische Grenze zurückschieben – also zur Frontlinie des Kalten Krieges. Reagiert der 69-jährige aus Angst? Oder will er so den Respekt des Westens zurückerobern? Wie tickt der einstige Stargast des Bundestages nach 22 Jahren an der Macht?


 

Klug, machtbewusst, misstrauisch“: Was plant Putin für Russland?

Schon vor der Annexion der Krim 2014 diskutierten westliche Psychologen und Medienleute, ob Putin ein Psychopath sei. Viele sahen Angela Merkels Worte, Putin lebe „in einer anderen Welt“, als Bestätigung, dass er nicht mehr alle Tassen im Schrank habe. Aber der ukrainische Schriftsteller Boris Chersonski warnt seine Landsleute, sie sollten Putin nicht unterschätzen. „Unser Feind ist klug, machtbewusst, misstrauisch und impulsiv.“ Aber weder sei er debil noch schizophren.


 

Putin ist nicht der einzige Russe, der sich von der Nato bedroht fühlt. „Die Nato hat Jugoslawien angegriffen, wie können wir ausschließen, dass sie Russland angreift?“, fragt der oppositionelle Publizist Maxim Schewtschenko. Wer garantiere Russland, dass die USA nicht versuchten, Russlands Atomarsenal technisch auszuschalten? Warum sei die Nato bis ins Baltikum vorgerückt, von wo aus ihre Raketen Sankt Petersburg in 20 Sekunden erreichen können?


 

Keineswegs alle Argumente Putins sind aus der Luft gegriffen, auch wenn sie die Sicherheitsinteressen Osteuropas völlig ignorieren. Aber Putin lässt sein diplomatisches Corps diese Argumente verhandeln, als hätte Russland den Ukraine-Krieg schon gewonnen. „Ihr braucht nur noch zu unterschreiben“, verkündete Vizeaußenminister Sergei Rjabkow nach der Veröffentlichung der russischen Forderungen. Und man wolle keine anderen Länder bei den Verhandlungen dabei haben als die USA, um nicht „in leerem Geschwätz zu ertrinken“.


 

Russland-Ukraine-Konflikt: „Putin wird immer Angst haben“

Viele Beobachter glauben, Putin fühle sich beleidigt. Ein Kind des Kalten Krieges, langgedienter Staatssicherheitler, der als junger Staatschef dem ehemaligen Feind die Hand reichte, allerdings parallel oppositionelle TV-Sender gleichschalten ließ. Die Kritik aus den westlichen Demokratien wurde schnell lauter, Putins Teilnahme an den G8-Gipfeln immer peinlicher: ein neureicher Russe, der mit Hockeyschläger auf einem vornehmen angelsächsischen Golfplatz aufkreuzt. Die amerikanisch-russische Politologin Nina Chruschtschowa attestiert Putin Minderwertigkeitskomplexe.


 

Vergangenen November aber forderte er von seinem Außenministerium, die Spannung bei der Nato so lange wie möglich hochzuhalten, damit diese „an unseren Westgrenzen nicht irgendeinen überflüssigen Konflikt anzettelt“. Ein Aufruf zum außenpolitischen Gegendruck, der vermuten lässt, dass der Staatschef die nationale, wenn nicht die eigene Sicherheit bedroht glaubt. Er hat wiederholt erzählt, wie er als Kind eine Ratte durchs Treppenhaus jagte und wie das Tier plötzlich zum Gegenangriff überging und versuchte, ihm ins Gesicht zu springen. Putins Moral: „Treib keinen in die Enge!“


 

Häufig wirft er westlichen Politikern vor, sie wollten Russland zerteilen, den russischen Bär „ausgestopft“ aufstellen, er entsetzt sich über den Lynchmord an dem gestürzten libyschen Autokraten Muammar al-Gaddafi. „Putin wird immer Angst haben“, sagt der Politologe Gleb Pawlowski, „Angst gehört zu seiner Persönlichkeitsstruktur.“ Jedenfalls ist sein Sicherheitsbedürfnis sehr ausgeprägt.


 

Russland: Putin am Rande eines Krieges mit der Ukraine

Nun balanciert er am Rande eines großen Krieges mit der Ukraine, riskiert neue Sanktionen und US-Truppenverschiebungen nach Polen und ins Baltikum. Er balanciert am Abgrund. Allerdings ist diese „Brinkmanship“ genannte Taktik keine Erfindung Putins. Der einstige US-Außenminister John Foster Dulles schrieb schon 1956: „Wenn man Angst hat, bis an den Rand des Abgrundes zu gehen, ist man verloren.“


 

Aber viele in Russland glauben gar nicht an einen großen Krieg. „Putin hat Kinder, Enkel, eine Geliebte und eine Menge Immobilien“, sagt die Moskauer Apothekerin Irina. „Auch er kann keinen Weltuntergang gebrauchen.“ (Stefan Scholl)


 

In den Gesprächen mit den USA hält sich Moskau bedeckt. Experten zufolge entsprechen die widersprüchlichen Botschaften aus Russland ganz Putins Plan.