Kleingemacht im Größenwahn

Erinnerungen an die DDR – 70 Jahre nach ihrer Gründung

Das Misstrauen war das Schlimmste: Kurz nach ihrem runden Geburtstag ging die DDR zugrunde, weil das Volk seine kollektive Kraft entdeckte. Ein Rückblick.

Von LOTHAR HEINKE

 

https://www.tagesspiegel.de/berlin/kleingemacht-im-groessenwahn-erinnerungen-an-die-ddr-70-jahre-nach-ihrer-gruendung/25087560.html

 

Bitte nicht erschrecken, sondern einfach weiterlesen: „Die fortwährende Herstellung, Festigung und Entwicklung der Übereinstimmung von gesellschaftlichen, kollektiven und individuellen Interessen ist die grundlegende Bewegungsform der qualitativ neuen Widersprüche des Sozialismus und zugleich der Weg, sie bewusst als Triebkräfte des gesellschaftlichen Fortschritts zu nutzen. Die SED kämpft darum, alle Triebkräfte des Sozialismus für ein hohes Leistungswachstum zu mobilisieren.“ So steht es wörtlich in den Thesen des Zentralkomitees der SED zum Karl-Marx-Jahr 1983.

 

Dieser Unfug findet sich, neben noch mehr „Kaderwelsch“, im Begleitbuch zum DDR-Staatsbürgerunterricht für die 10. Klasse anno 1989. Ich habe die einstige Schülerin, die mir das Buch nach der Wende vermacht hat, gefragt, was davon bei ihr hängen geblieben ist. „Nichts“, sagt sie nach kurzem Überlegen, „alles nur Phrasen gewesen.“ Mit denen konnte man in der neuen Zeit nicht viel anfangen, die Triebkräfte waren mittlerweile ganz andere als das Backpulver des Sozialismus.

 

Aber in der vor 70 Jahren, am 7. Oktober 1949, gegründeten DDR waren die Worte der Säulenheiligen und des Führungspersonals Gesetz, sie waren „die Linie“, und wer sie überschritt oder verletzte, wer das kleinkarierte Millimeterpapier-Denken nicht mitmachen wollte oder ganz ablehnte, bekam ein Problem mit jenen, die die Weisheit gepachtet hatten: „Die Partei, die Partei hat immer recht“ sangen sie, und manche glaubten das sogar.

 

Dies soll eine Erinnerung an die Gründung und das immerhin 40-jährige Bestehen des deutschen Staates östlich der von den Alliierten gezogenen Demarkationslinie sein – 18 Millionen Deutsche, die sich „DDR-Bürger“ nennen sollten und sich verwundert die Augen rieben, als Sigmund Jähn aus dem idyllischen Morgenröthe-Rautenkranz im schönen Vogtland urplötzlich als „Deutscher im All“ bejubelt wurde.

 

Nanu? Deutsche gibt es doch recht eigentlich nur „drüben“, in der BRD? Die DDR hatte sich in ihrem Größenwahn klein gemacht, sie hatte ihrem ab 13. August 1961 eingemauerten Staatsvolk vorgegaukelt, die Besseren zu sein. Sie redete egalweg davon, zu den zehn größten Industrienationen zu gehören – und war doch arm wie eine Kirchenmaus. Für Devisen verhökerte sie auch noch uralte Pflastersteine, auf denen schon die Baronessen in ihren Kutschen entlanggezuckelt waren und den Tagelöhnern bei der Feldarbeit zugesehen hatten.

 

Erstes Aufbegehren im sozialistischen Lager

„Es muss stauben bis nach Bonn“, riefen die Funktionäre, bevor sie Herrenhäuser und Schlösser in die Luft sprengten und die Bauern in die LPG trieben. Das Volk dachte sich seinen Teil und ging im Juni 1953 auf die Straße: erstes Aufbegehren im sozialistischen Lager, ein Menetekel, das 36 Jahre lang das (Staats-)Sicherheitsdenken der DDR-Führung bestimmen sollte.

 

„Genossen, denkt an den 17. Juni!“, war das Stichwort für Repressalien und den hysterischen Kampf gegen „die Anderen“, die Nicht-Gleichgeschalteten in der Masse des arbeitsamen, fleißigen Volkes. Sie wollten keine sowjetische Kolonie sein, obwohl vieles darauf hindeutete, dass Josef Stalin seinen DDR-Genossen allerlei verordnete: Kollektivierung der Landwirtschaft, Ausbau der Schwerindustrie, Abschaffung des Mittelstandes, Aufbau der geheimen und offen zur Schau gestellten Sicherheitsorgane, Terrorjustiz: „Und willst du nicht mein Bruder sein, dann...“

 

Sicherheitshysterie erstickte den Staat

Das Misstrauen war das Schlimmste. Jede Familie hat mit dem Sicherheitstick des Staates ihre Erfahrungen gemacht. Fangen wir doch einfach mal bei der eigenen Familie an: Meine Frau ist Geologin, arbeitete am Geologischen Institut in der Invalidenstraße neben dem Naturkundemuseum. Die DDR hatte außer Kohle keine nennenswerten Bodenschätze, dennoch war jede Fundstelle ein Staatsgeheimnis: Selbst bei Familienfeiern durfte man nicht in den Westen fahren, jede Postkarte „von drüben“ musste registriert werden, selbst das Offenliegende wurde zum Staatsgeheimnis erklärt, die Tabus versperrten die Sicht über den Tellerrand.

 

Sicherheitshysterie erstickte den Staat, das Volk wurde mit Phrasen abgespeist und verfiel in eine gewisse Lethargie: Es ging eben nur in kleinen Schritten seinen sozialistischen Gang. Je kürzer die Lebenserwartung des Staates, desto länger wurden die Witze über das einstige Land der frohen Zuversicht.

 

Sargnägel für die DDR – von Biermann bis Lindenberg

Als immer mehr Leute die Gängelei satt hatten und – manchmal zum Verdruss der Zurückbleibenden – ihren Ausreiseantrag stellten, hätte der Staat die Signale hören müssen. Auf beiden Ohren taub, meinte Erich Honecker, allen, die die DDR verließen, keine Träne nachweinen zu müssen.

 

Der Rausschmiss Wolf Biermanns, Udo Lindenbergs Sonderzug nach Pankow, das Verbot des „Sputnik“ aus dem Lande Lenins und des großen Bruders, Filme wie „Abschied von Matjora“ waren Sargnägel für die DDR – „der Letzte macht das Licht aus“, spotteten die Leute, das alles konnte auf Dauer nicht gut gehen und nicht ewig währen.

 

 

Zwischen Leuchttürmen und bröckelndem Putz

Nach 40 Jahren verlosch das Lebenslicht eines Staates, in dem viel Gutes geschaffen wurde, trotz alledem. Den Wohnungsbau, vor allem in Berlin, sollte niemand schlechtreden, „Palast der Republik“, Fernsehturm, Dresdens Oper, Berlins Schauspielhaus und Leipzigs Gewandhaus (Kurt Masur!) wurden mit Willenskraft und fachlichem Können gebaut, für den Zentralflughafen Schönefeld brauchte man nurmehr drei Jahre. Das waren die Leuchttürme – während anderswo von den Wohnhäusern der Putz bröckelte.

 

Aber das war nur die eine Seite. Das Volk spürte mehr und mehr seine Unmündigkeit, bekam Wut und Mut gleichermaßen, entwickelte seine kollektive Kraft und lernte sehr schnell den aufrechten Gang. In Leipzig, in Plauen, in den Kirchen und auf der Straße. In Berlin war es am 4. November 1989 so weit. Auf dem Alex hatte sich die Stadt versammelt, die Transparente sind heute im Museum – wie der Staat, in dem das alles geschah.

 

Mit uns, den Leuten aus dem Osten, die ihren Stolz und Zusammenhalt bewahrt haben, und etwas anders sind als Bayern und Nordlichter: Wach, empfindsam, sensibel, wissbegierig, helle und offen geradezu. Weit weg von Angeberei, Arroganz und Geldgier. Aber das ist schon das nächste Kapitel. Die doofen Begriffe Ossis und Wessis sollte man schnell begraben – unter uns Deutschen.

 

 

Kommentar:

Was wäre Deutschsein ohne uns aus den Ostländern? Egal, wo wir jetzt leben. Es wäre nur eine zur Hälfte gefüllte Hülle.

 

Dinge, die vor Jahren unvorstellbar waren, werden jetzt von den großen Discountern und Supermärkten gelistet. RötkäppchenSekt, Kathi-Backfertigmehl, Bautzener Senf, die breite Pallette der Produkte aus dem Spreewald. Heute erhalte ich in Stuttgart, im tiefsten Westen, Steckrüben (bei uns im Osten in der Ex-DDR heißen die Wrucken).

 

Nicht nur unsere Welt ist bunter und vielfältiger geworden. Wir in die deutsche Welt „ausgereisten“  Ossis haben dem Westen unsere Welt nahegebracht. Unser Verständnis von Humor, unsere Musik, unsere Küche, unsere Bücher. Nur der aufgeklärte Wessi wusste von all dem. 

 

Teilweise sind unsere Kinder uns Alten vorgereist. Haben jetzt selbst Kinder. Es macht Freude, diesen Neugierigen die Welt vor vor 30 Jahren nahe zu bringen. Aber nicht zu doll, schnell wird auch das fade und langweilig.

 

Es ist wichtig, die Erinnerung zu bewahren, aber nicht zu verklären. Was dabei herauskommt, sieht man ja aktuell bei einigen, die damit beschäftigt sind, zu vergessen.

 

Wanda Müller